„Wir entscheiden, was das Land bewegt“
Die Vizepräsidentin des Verwaltungsgerichts über Richter im Homeoffice und die Klagewelle durch Corona.
DÜSSELDORF Richterin Nicola Haderlein ist Spezialistin für Subventionsrecht, bearbeitet aber auch Asylrechtsfälle. Seit 1993 arbeitet die 57-Jährige am Verwaltungsgericht Düsseldorf, seit vier Jahren ist sie Sprecherin und seit 2018 Vizepräsidentin des Gerichts.
Frau Haderlein, die immer neuen Corona-Regeln bringen auch immer neue Klagen und Eilanträge mit sich. Wie viele waren es am Verwaltungsgericht Düsseldorf? NICOLA HADERLEIN Insgesamt waren es seit März 218 Verfahren, 116 Klageund 102 Eilverfahren. 134 haben wir bereits erledigt, die Quote der erfolgreichen Rechtsschutzbegehren liegt dabei bei circa zehn Prozent.
Aus welchen Bereichen kommen die Klagen?
HADERLEIN Im Moment geht es vor allem um die Maskenpflicht. Dazu gehören zum Beispiel Eilanträge von Bürgern gegen Allgemeinverfügungen zur Maskenpflicht, wie sie die Stadt Düsseldorf vor Kurzem verhängt hat, oder Menschen, die sich dagegen wehren, dass sie in Quarantäne mussten. Hier gehen auch Klagen von Eltern ein, die sich gegen die Maskenpflicht in der Grundschule ihrer Kinder etwa in Krefeld richten.
Um die Corona-Schutzverordnung an sich geht es dabei aber nicht? HADERLEIN Damit beschäftigt sich in NRW ausschließlich das Oberverwaltungsgericht (OVG) in Münster. Wir entscheiden hier am Verwaltungsgericht Fälle aus unserem Gerichtssprengel, die sich gegen Verwaltungsakte richten. Also wenn es zum Beispiel um die Allgemeinverfügung einer Stadt oder die Schließung eines Lokals geht, weil der Betreiber gegen die Corona-Regeln verstoßen hat.
Haben sich die Themenschwerpunkte im Vergleich zum Frühjahr dabei verschoben?
HADERLEIN Die Klagen richten sich immer nach der derzeitigen Rechtslage. Beim ersten Lockdown haben wir viel mit Gewerbetreibenden zu tun gehabt, die argumentiert haben, dass ihr Gewerbe nicht unter die Regelung fällt. Im Sommer war es dann ruhiger, jetzt steigt die Zahl der Verfahren wieder deutlich an – mit dem Schwerpunkt Maskenpflicht und Quarantäne-Anordnungen.
Die Entscheidung des Gerichts, die allgemeine Maskenpflicht in Düsseldorf zu kippen, wurde viel diskutiert. Haben auch Sie Rückmeldungen aus der Bürgerschaft bekommen?
HADERLEIN Wir bekommen immer mal wieder Anrufe, Mails oder Briefe von Bürgern – nicht alle zustimmender Natur. Dazu muss man aber sagen: Die Richter sind nur dem Gesetz verpflichtet. Die städtische Verfügung war rechtswidrig, weil sie zu unbestimmt war. Das Gericht überprüft aber nicht die Sinnhaftigkeit einer Maskenpflicht – unsere Aufgabe als Judikative ist es, die Exekutive zu korrigieren, wenn Verfügungen dem geltenden Recht widersprechen.
Hatte das Verwaltungsgericht in den vergangenen Jahren schon einmal mit einer ähnlichen Klagewelle zu tun?
HADERLEIN Von den Zahlen her sind die Asylverfahren bis heute das deutlich größere Thema, jeder der 115 Richter dieses Gerichts bearbeitet Asylrechtsfälle. Inzwischen sind aber vier Kammern, also zwölf Richter, auch mit Verfahren zum Infektionsschutzrecht beschäftigt. Der Arbeitsaufwand ist enorm, da werden viele Überstunden gemacht. Anfang März haben wir drei Kammern damit betraut, Anfang November ist die vierte dazu gekommen. Der Aufwand ist auch so hoch, weil es dazu keinerlei gesicherte Rechtssprechung gibt, auf die die Richter zurückgreifen können. Aber wir arbeiten als Gericht am Puls der Zeit, wir entscheiden das, was das Land bewegt – das macht viel Freude.
Arbeiten Sie trotz Teil-Lockdowns im normalen Sitzungsbetrieb? HADERLEIN Ja, das ist ebenfalls anders als im Frühjahr. Wir sind hier allerdings sehr privilegiert, haben große Sitzungssäle mit hohen Decken. Zwei kleinere Verhandlungssäle haben wir geschlossen. In den größeren Sälen kommen Acrylglasscheiben zum Einsatz, die Tische werden desinfiziert und der Richter entscheidet, ob in seinem Saal Maske getragen werden muss oder nicht. Viele der Corona-Verfahren verhandeln wir aber ohnehin nicht mündlich, sondern entscheiden schriftlich.
Woran liegt das?
HADERLEIN Das ist bei Eilverfahren so vorgeschrieben, das Ergebnis nennt sich deshalb auch nicht Urteil, sondern Beschluss. Dabei geben die Beteiligten ihre Stellungnahmen schriftlich ab, die Richter setzen sich zusammen, prüfen die Rechtslage und verfassen dann eine Entscheidung. So geschieht es zurzeit beim Eilantrag einer Bürgerin gegen die neue Allgemeinverfügung zur Maskenpflicht der Stadt Düsseldorf.
Viele Arbeitnehmer befinden sich im Homeoffice – auch am Verwaltungsgericht?
HADERLEIN Nicht komplett, bei mündlichen Verhandlungen ist das zum Beispiel nicht möglich. Wir sind aber dabei, das nötige Equipment anzuschaffen, dass diese künftig in Ausnahmefällen per Videokonferenz durchführbar sind. Die sonstige Arbeit mit den Akten verrichten wir am Schreibtisch, also im Büro oder zu Hause. Das ist jedem Richter selbst überlassen. Wir sind außerdem dabei, auf digitale Akten umzusteigen, dann wird das Ganze noch einfacher. Ich persönlich bin als Vizepräsidentin auch oft vor Ort gefragt – und für manche Entscheidungen oder Gespräche ist der persönliche Austausch ohnehin unerlässlich.
Wie lange werden die Corona-Verfahren Sie und Ihre Kollegen noch beschäftigen?
HADERLEIN Momentan sind noch 84 Verfahren anhängig – und täglich gehen neue ein. Wir gehen davon aus, dass uns diese Verfahren noch weit bis ins nächste Jahr beschäftigen werden. Solange die Pandemiebekämpfung zu Grundrechtseinschränkungen führt, wird es Verfahren geben. Und auch wenn es einen Impfstoff geben sollte, ist unsere Arbeit noch nicht getan: Es ist nicht auszuschließen, dass es zum Beispiel auch Klagen dazu geben wird, in welcher Reihenfolge die Menschen geimpft werden.