Suche nach einem neuem Corona-Index
Gesundheitspolitiker diskutieren über Mechanismen für Lockerungen und Beschränkungen in der Pandemie, die besser nachvollziehbar für die Bürger sein sollen.
DÜSSELDORF Politiker, Virologen, Staatsbedienstete und Bürger – sie alle blicken Morgen für Morgen auf einen Wert, um den Ernst der Lage zu fassen: die Sieben-Tage-Inzidenz. Konnte noch vor ein paar Monaten wohl nur ein Bruchteil der Bevölkerung mit diesem sperrigen Wort etwas anfangen, hat die Corona-Pandemie das maßgeblich geändert. Bei der sogenannten Hotspot-Strategie richten sich alle Augen auf die Zahl der Neuinfizierten je 100.000 Einwohner innerhalb von einer Woche. Dieser Wert war am Mittwoch in allen Landkreisen und kreisfreien Städten in Nordrhein-Westfalen überschritten. Dabei galt lange ein Wert von 50 als die wichtigste Steuerungsgröße der Politik, weil ab diesem die Gesundheitsämter noch in der Lage waren, Infektionsketten eindeutig nachzuverfolgen. Doch das ist mit der zweiten Welle Geschichte, und da in einigen Kommunen die Inzidenz um ein Fünffaches über der Schwelle liegt, steigt die Unruhe im politischen Raum.
Nun hat der Aachener CDU-Bundestagsabgeordnete und langjährige Vorsitzende der Ärztegewerkschaft Marburger Bund, Rudolf Henke, Vorschläge gemacht, wie das System reformiert werden könnte. In einem Ideenpapier für die Arbeitsgruppe Gesundheit der Unionsfraktion, das unserer Redaktion vorliegt, schlägt der Mediziner vor, dass zum Start der Covid-19-Impfungen der Fokus nicht mehr allein auf den Neuinfektionen liegen soll. Henke schlägt die Erarbeitung eines neuen Kriterienkatalogs
inklusive konkreter Auslösungsmechanismen vor, also einen Corona-Index, an dessen Erarbeitung das Robert-Koch-Institut, die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften und die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina mitwirken sollen. Der Index soll sich aus festen Werten wie etwa der Anzahl der in Heimen lebenden Pflegebedürftigen und der Bevölkerungsdichte sowie aus variablen Parametern pro Landkreis oder kreisfreier Stadt speisen. Zu zweiter Gruppe zählt Henke beispielsweise den Anteil der Risiko- und beruflich besonders exponierten Bevölkerungsgruppen, die bereits gegen das Coronavirus geimpft wurden. Weitere Kriterien könnte die Inzidenz positiver Testergebnisse im Zeitverlauf, der prozentuale Anteil positiver Testergebnisse an den durchgeführten Tests, die Auslastung des öffentlichen Gesundheitsdienstes, die Auslastung der Intensivstationen und der Reproduktionswert sein. „Eventuell sind dabei auch bisher weniger beachtete, nicht primär infektionsepidemiologische Kriterien einzubeziehen, zum Beispiel der Anteil der Schulklassen in Absonderung“, so Henke.
In einem zweiten Schritt sollen fünf Stufen etabliert und diesen dann konkrete Lockerungs- oder Verschärfungsschritte zugeordnet werden. „Zum neuen Jahr brauchen wir eine dauerhafte, für die Bevölkerung verlässliche Strategie, die Einheitlichkeit und Regionalität bei den Maßnahmen verknüpft“, sagte Henke unserer Redaktion. Unter den Gesundheitspolitikern der Unionsfraktion gebe es Sympathie für einen wissenschaftlich gestützten Corona-Index.
Die FDP-Fraktion in NRW kann sich dagegen vorstellen, dauerhaft auch höhere Inzidenz-Werte zu akzeptieren, sobald die Gesundheitsämter besser ausgestattet sind: „Die
FDP-Landtagsfraktion spricht sich dafür aus, die Inzidenzwerte zu überprüfen, wenn Gesundheitsämter personell und digital gestärkt sind und die Nachverfolgung besser organisiert werden kann. Ziel der FDP bleibt, dass das gesellschaftliche Leben in den Bereichen Kultur, Sport und Gastronomie wieder weiter geöffnet wird, sobald es regional verantwortbar ist“, sagte Fraktionschef Christof Rasche.
Auch die Grünen sind zu dem Schluss gekommen, dass die Hotspot-Strategie neu gedacht werden muss. So sei nicht nachvollziehbar, welche Maßnahmen bei einer Überschreitung des Inzidenzwerts von 100 getroffen werden sollen, obwohl die Ministerpräsidentenkonferenz mit der Kanzlerin Mitte November die Bedeutung der Strategie betont hatte. Die Grünen fordern einen Stufenplan mit konkreten Vorgaben dafür, welche Maßnahmen für Schulen, Kitas, das Arbeitsleben, aber auch für Freizeit-, Kultur- und Sporteinrichtungen, ergriffen oder gelockert werden müssen oder können. „Teil der Hotspot-Strategie sollte unter anderem sein, wann Arbeitnehmer, die von zu Hause aus arbeiten können, ins Homeoffice entsandt werden müssen – das gilt auch für die Beschäftigten des Landes“, heißt es in dem Antrag.
Für SPD-Fraktionschef Thomas Kutschaty hat sich das ursprüngliche Ampelsystem längst erübrigt: „Wir brauchen hier eindeutig weitere Staffelungen, die sich auch an den Kapazitäten der jeweiligen Gesundheitsämter vor Ort sowie der Anzahl an Patienten auf Intensivstationen und dem tatsächlich zur Verfügung stehenden Intensivpersonal in den Kliniken orientiert.“