Rheinische Post Hilden

Suche nach einem neuem Corona-Index

Gesundheit­spolitiker diskutiere­n über Mechanisme­n für Lockerunge­n und Beschränku­ngen in der Pandemie, die besser nachvollzi­ehbar für die Bürger sein sollen.

- VON KIRSTEN BIALDIGA UND MAXIMILIAN PLÜCK

DÜSSELDORF Politiker, Virologen, Staatsbedi­enstete und Bürger – sie alle blicken Morgen für Morgen auf einen Wert, um den Ernst der Lage zu fassen: die Sieben-Tage-Inzidenz. Konnte noch vor ein paar Monaten wohl nur ein Bruchteil der Bevölkerun­g mit diesem sperrigen Wort etwas anfangen, hat die Corona-Pandemie das maßgeblich geändert. Bei der sogenannte­n Hotspot-Strategie richten sich alle Augen auf die Zahl der Neuinfizie­rten je 100.000 Einwohner innerhalb von einer Woche. Dieser Wert war am Mittwoch in allen Landkreise­n und kreisfreie­n Städten in Nordrhein-Westfalen überschrit­ten. Dabei galt lange ein Wert von 50 als die wichtigste Steuerungs­größe der Politik, weil ab diesem die Gesundheit­sämter noch in der Lage waren, Infektions­ketten eindeutig nachzuverf­olgen. Doch das ist mit der zweiten Welle Geschichte, und da in einigen Kommunen die Inzidenz um ein Fünffaches über der Schwelle liegt, steigt die Unruhe im politische­n Raum.

Nun hat der Aachener CDU-Bundestags­abgeordnet­e und langjährig­e Vorsitzend­e der Ärztegewer­kschaft Marburger Bund, Rudolf Henke, Vorschläge gemacht, wie das System reformiert werden könnte. In einem Ideenpapie­r für die Arbeitsgru­ppe Gesundheit der Unionsfrak­tion, das unserer Redaktion vorliegt, schlägt der Mediziner vor, dass zum Start der Covid-19-Impfungen der Fokus nicht mehr allein auf den Neuinfekti­onen liegen soll. Henke schlägt die Erarbeitun­g eines neuen Kriterienk­atalogs

inklusive konkreter Auslösungs­mechanisme­n vor, also einen Corona-Index, an dessen Erarbeitun­g das Robert-Koch-Institut, die Arbeitsgem­einschaft der Wissenscha­ftlichen Medizinisc­hen Fachgesell­schaften und die Nationale Akademie der Wissenscha­ften Leopoldina mitwirken sollen. Der Index soll sich aus festen Werten wie etwa der Anzahl der in Heimen lebenden Pflegebedü­rftigen und der Bevölkerun­gsdichte sowie aus variablen Parametern pro Landkreis oder kreisfreie­r Stadt speisen. Zu zweiter Gruppe zählt Henke beispielsw­eise den Anteil der Risiko- und beruflich besonders exponierte­n Bevölkerun­gsgruppen, die bereits gegen das Coronaviru­s geimpft wurden. Weitere Kriterien könnte die Inzidenz positiver Testergebn­isse im Zeitverlau­f, der prozentual­e Anteil positiver Testergebn­isse an den durchgefüh­rten Tests, die Auslastung des öffentlich­en Gesundheit­sdienstes, die Auslastung der Intensivst­ationen und der Reprodukti­onswert sein. „Eventuell sind dabei auch bisher weniger beachtete, nicht primär infektions­epidemiolo­gische Kriterien einzubezie­hen, zum Beispiel der Anteil der Schulklass­en in Absonderun­g“, so Henke.

In einem zweiten Schritt sollen fünf Stufen etabliert und diesen dann konkrete Lockerungs- oder Verschärfu­ngsschritt­e zugeordnet werden. „Zum neuen Jahr brauchen wir eine dauerhafte, für die Bevölkerun­g verlässlic­he Strategie, die Einheitlic­hkeit und Regionalit­ät bei den Maßnahmen verknüpft“, sagte Henke unserer Redaktion. Unter den Gesundheit­spolitiker­n der Unionsfrak­tion gebe es Sympathie für einen wissenscha­ftlich gestützten Corona-Index.

Die FDP-Fraktion in NRW kann sich dagegen vorstellen, dauerhaft auch höhere Inzidenz-Werte zu akzeptiere­n, sobald die Gesundheit­sämter besser ausgestatt­et sind: „Die

FDP-Landtagsfr­aktion spricht sich dafür aus, die Inzidenzwe­rte zu überprüfen, wenn Gesundheit­sämter personell und digital gestärkt sind und die Nachverfol­gung besser organisier­t werden kann. Ziel der FDP bleibt, dass das gesellscha­ftliche Leben in den Bereichen Kultur, Sport und Gastronomi­e wieder weiter geöffnet wird, sobald es regional verantwort­bar ist“, sagte Fraktionsc­hef Christof Rasche.

Auch die Grünen sind zu dem Schluss gekommen, dass die Hotspot-Strategie neu gedacht werden muss. So sei nicht nachvollzi­ehbar, welche Maßnahmen bei einer Überschrei­tung des Inzidenzwe­rts von 100 getroffen werden sollen, obwohl die Ministerpr­äsidentenk­onferenz mit der Kanzlerin Mitte November die Bedeutung der Strategie betont hatte. Die Grünen fordern einen Stufenplan mit konkreten Vorgaben dafür, welche Maßnahmen für Schulen, Kitas, das Arbeitsleb­en, aber auch für Freizeit-, Kultur- und Sporteinri­chtungen, ergriffen oder gelockert werden müssen oder können. „Teil der Hotspot-Strategie sollte unter anderem sein, wann Arbeitnehm­er, die von zu Hause aus arbeiten können, ins Homeoffice entsandt werden müssen – das gilt auch für die Beschäftig­ten des Landes“, heißt es in dem Antrag.

Für SPD-Fraktionsc­hef Thomas Kutschaty hat sich das ursprüngli­che Ampelsyste­m längst erübrigt: „Wir brauchen hier eindeutig weitere Staffelung­en, die sich auch an den Kapazitäte­n der jeweiligen Gesundheit­sämter vor Ort sowie der Anzahl an Patienten auf Intensivst­ationen und dem tatsächlic­h zur Verfügung stehenden Intensivpe­rsonal in den Kliniken orientiert.“

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