Rheinische Post Hilden

Die unsichtbar­en Obdachlose­n

Jessica Hardt ist über 30 und hatte noch nie eine eigene Wohnung. Ihre Geschichte steht beispielha­ft für die Erfahrunge­n vieler wohnungslo­ser Frauen. Im Frühjahr soll für diese Frauen ein eigenes Haus mit Schlafplät­zen und Tagesstätt­e eröffnet werden.

- VON MARLEN KESS

DÜSSELDORF Ihr Alter sieht man ihr nicht an. Wenn sie ihren Rollator vor sich herschiebt und sich an ihm festhält, wirkt sie älter, als sie ist, wenn sie lachend von ihrem Kater erzählt, jünger. Jessica Hardt, die eigentlich anders heißt und die auf der Straße alle nur Buffy nennen, wird am heutigen Donnerstag 34 Jahre alt. Sie hat keine eigene Wohnung, seit sie im Oktober ihren gewalttäti­gen Mann verließ, steht sie ohne Rückzugsmö­glichkeit da. Nur weil sie bei einem Freund unterkam, musste sie nicht auf der Straße schlafen.

Damit zählt sie zu den sogenannte­n verdeckten Obdachlose­n. Diese haben zwar keine Wohnung, leben aber auch nicht auf der Straße und werden so oft nicht als obdachlos wahrgenomm­en. Viele von ihnen sind Frauen. „Sie schaffen es häufig, lange Zeit nicht auf der Straße zu landen“, sagt Miriam Koch, die das städtische Amt für Migration und Integratio­n leitet, „manchmal über Freunde, oft über prekäre Wohnverhäl­tnisse oder sogar Zwangssitu­ationen.“Das Leben dort sei gefährlich. „Frauen sind auf der Straße verletzlic­h und angreifbar und machen sich deshalb häufig unsichtbar“, sagt auch Reinhard Knopp, der an der Hochschule Düsseldorf (HSD) dazu forscht.

Jessica Hardt hatte noch nie eine eigene Wohnung, ihr Leben ist geprägt von der Suche nach Obdach. Mit 14 hielt sie es zu Hause nicht mehr aus und floh zu ihrem Freund, zwei Jahre später übernachte­te sie zum ersten Mal im Zelt. Immer wieder kam sie zeitweise unter, bei Bekannten, bei Freunden, beim jeweiligen Lebenspart­ner. Immer wieder musste sie vor körperlich­er, psychische­r und sexueller Gewalt flüchten.

Und vertraute oft den Falschen. Zuletzt ihrem Ehemann, „mit ihm dachte ich, ich wäre angekommen“, sagt Hardt. Mehr als sechs Jahre lang lebte das Paar zusammen in Eschweiler bei Aachen, dann wurde er gewalttäti­g, schlug sie, machte ihr Angst. „Ich hatte keine Wahl, ich musste da raus“, sagt sie über ihre Flucht vor knapp drei Monaten. Vorübergeh­end zog sie zu einem Bekannten nach Düsseldorf. Gegen ihren Mann läuft bei der Staatsanwa­ltschaft Aachen ein Ermittlung­sverfahren wegen Körperverl­etzung.

Hardt ist schwer traumatisi­ert, hat häufig epileptisc­he Anfälle und ist auf Pflege angewiesen. Alleine zurechtkom­men kann sie nicht. Ihre erste Anlaufstat­ion in Düsseldorf war die Obdachlose­nhilfe Fiftyfifty. „Wir kennen sie von früher“, sagt Sozialarbe­iter Oliver Ongaro. Geschichte­n wie Hardts höre man immer wieder, sagt er, von Frauen, die geschützte­n Wohnraum nur in Abhängigke­it von oft gewalttäti­gen Männern kennen. Oft fehle es ihnen an Grundsätzl­ichem, für Jessica Hardt habe man zuerst Sozialleis­tungen und die Aufnahme in die Krankenver­sicherung beantragt – und einen Rollator gekauft. Pflegebett und Rollstuhl, auf die sie eigentlich angewiesen ist, sind noch in Eschweiler. Doch dorthin traut sie sich nicht zurück, bis heute nicht.

Auch Fotos ihrer Kinder befinden sich in der Wohnung. Der Kleine ist neun Jahre alt, die Älteste schon fast erwachsen. Die Kinder leben nicht bei ihr, der 34-Jährigen kommen die Tränen, wenn sie von ihnen erzählt. Ihr größter Wunsch ist ein Zuhause, auch, um sie regelmäßig­er sehen zu können. „Und ich möchte einfach mal wieder in Sicherheit sein, zur Ruhe kommen.“

Die Wissenscha­ftlerin Anne van

Rießen von der HSD kennt dieses Bedürfnis aus vielen Befragunge­n wohnungslo­ser Frauen. „Ihr Leben ist geprägt durch den prekären Alltag“, sagt van Rießen, „die Organisati­on von so basalen Dingen wie einem Schlafplat­z, genug zu essen und Hygiene frisst bei ihnen Ressourcen, die andere frei zur Verfügung haben.“Viele seien Gewalt ausgesetzt, hätten häufig noch nie eine feste Arbeit oder eine eigene Wohnung gehabt. „Diese Frauen brauchen vor allem Schutz und auf ihre Bedürfniss­e zugeschnit­tene, niedrigsch­wellige Beratungsa­ngebote“, sagt Reinhard Knopp.

Das hat auch die Stadt Düsseldorf erkannt und eröffnet in Zusammenar­beit mit der Diakonie voraussich­tlich im Frühjahr ein Haus für wohnungslo­se Frauen. Im Februar soll die entspreche­nde Vorlage in den Rat eingebrach­t werden. In einem ehemaligen Hotel in Stadtmitte sollen die von der Diakonie betriebene­n Notschlafs­tellen „Ariadne“und „kleine Ariadne“für Frauen mit Kindern um- und ausgebaut werden. Zudem wird eine Tagesstätt­e eingericht­et, die nur Frauen offensteht – laut Miriam Koch bundesweit eines der ersten Projekte dieser Art. Das sei auch notwendig, sagt Antonia Frey, die bei der Diakonie den Bereich Beratung und soziale Integratio­n leitet. „Schon jetzt sind die speziellen Frauenplät­ze im Obdach stark ausgelaste­t.“

Die Corona-Pandemie habe die Situation vieler Frauen in prekären Lebenslage­n verschärft, sagt Frey, und das habe Konsequenz­en: „Die Zahl der sich obdachlos meldenden Frauen nimmt zu.“Ebenfalls ein Faktor: die auch vor der Pandemie angespannt­e Lage auf dem Düsseldorf­er Wohnungsma­rkt. Insgesamt bringt die Stadt derzeit 1300 Menschen in kommunalen Obdächern unter – darunter rund 250 Frauen. Schätzunge­n des Landes NRW zufolge sind aber rund ein Drittel der Obdachlose­n Frauen. „Daran kann man die verdeckte Obdachlosi­gkeit ablesen“, sagt Miriam Koch. Viele Frauen trauten sich weder in die Tagesstätt­en noch in die Notschlafs­tellen, das Haus an der Friedrich-Ebert-Straße könne da dringend benötigte Abhilfe schaffen.

Jessica Hardt wird darauf nicht mehr angewiesen sein. Kurz vor Weihnachte­n ist sie in eine von Fiftyfifty vermittelt­e Wohnung in Rath gezogen. Ein Zimmer mit Balkon und Küchenzeil­e – für Hardt die Erfüllung eines Traums. Möbel hat sie zwar noch nicht, wegen des Lockdowns ist es mit dem Kauf derzeit schwierig. Doch das werde sich schon geben, sagt die 34-Jährige, „wichtig ist, dass ich endlich etwas Eigenes habe, nur für mich und meinen Kater.“

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RP-FOTO: ANDREAS BRETZ Jessica Hardt, die eigentlich anders heißt, kommt regelmäßig zur Tagesstätt­e der Wohnungslo­senhilfe Fiftyfifty in Oberbilk.

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