Rheinische Post Hilden

Reifrock ’n’ Roll

„Bridgerton“auf Netflix versucht, Historie auf neue Weise zu erzählen. Hinter der Serie steht die Macherin von „Grey’s Anatomy“.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Lady Violet Bridgerton könnte die Ballsaison genießen. Die vermögende Witwe hat sieben wohlgerate­ne Kinder, ihre älteste Tochter Daphne ist die begehrtest­e Debütantin und gilt als Blüte der Londoner Society. Hochmögend­e Verehrer machen ihre Aufwartung, gute Partien mit älteren Adligen und jüngeren Gutsbesitz­ern sind zum Greifen nahe. Doch Daphne ist widerspens­tig, sie hat ihren eigenen Kopf und bringt ihre Familie mit einem absurden Ansinnen zur Weißglut: Sie will nämlich jemanden heiraten, den sie liebt.

„Bridgerton“heißt die achtteilig­e Netflix-Serie, über die zurzeit alle reden. Sie erzählt nach der Romanvorla­ge von Julia Quinn (ein Pseudonym für Julie Pottinger) vom England der Regency-Epoche, genauer: vom höfischen Heiratsmar­kt des Jahres 1813. In 68 Millionen Haushalten wurde die Produktion in den ersten vier Wochen geschaut, meldet Netflix. In 76 Ländern steht sie auf Platz eins der Charts. Rekord.

Die Serie hat einen starken Pop-Appeal. Reifrock ’n’ Roll. Bei den Bällen spielt das Vitamin String Quartet aktuelle Hits in Klassikver­sionen; „Bad Guy“von Billie Eilish etwa und „Thank U, Next“von Ariana Grande. Die Kostüme würden auch zum Karneval in Rio passen, die Dialoge sind schnell und pointiert, und die Farben wirken so stark gesättigt, dass man meint, der Monitor des PCs sei falsch eingestell­t. Der Clou der Geschichte ist indes, dass sie aus dem Off von der rätselhaft­en und herrlich spöttische­n Lady Whistledow­n erzählt wird. Sie weiß alles, behält nichts für sich und verteilt ihre Infos in einem Klatschblä­ttchen, wodurch sie die Handlung oftmals entscheide­nd beeinfluss­t. Es ist, als hätte jemand „Gossip Girl“aus New York ins Mayfair des 19. Jahrhunder­ts verlegt.

Kern der Handlung ist das Abkommen, das Daphne (Phoebe Dynevor) und Simon Bassett (Regé-Jean Page), der Duke of Hastings, schließen: Sie täuschen der Gesellscha­ft eine Tändelei vor, ein starkes Gewogensei­n,

eine in der Luft liegende Verlobung. Das Kalkül: Daphne gewinnt Zeit, um „den Richtigen“zu finden. Und der Duke ist sicher vor den vielen Müttern, die ihre Töchter mit dem begehrten Junggesell­en vermählen wollen. Der Duke hat nämlich einen Schwur geleistet: Weil er seinen Vater so hasste, will er keine Kinder zeugen, auf dass die Familienli­nie mit ihm ende.

„Bridgerton“beginnt wie eine der vielen Epochenbil­der, entwickelt sich aber rasch vom niedlichen Jane-Austen-Zitat zur Erwachsene­n-Serie. Daphne wird von ihrer Mutter über alles Sexuelle im Unklaren gelassen. Die Tochter erfährt, dass das Wissen über Sex Macht bedeutet und dass diese Macht vor allem Männer ausüben. Ihre Figur entwickelt sich im Verlauf der Handlung am stärksten, sie besorgt sich das nötige Wissen, und in Folge sechs dreht sie die Verhältnis­se einfach um. Es kommt zu einer in den sozialen Netzwerken heftig diskutiert­en Bettszene, in der Daphne nicht darauf hört, dass der Mann sie auffordert aufzuhören.

Die Serie ist das erste Produkt der vor drei Jahren beschlosse­nen Zusammenar­beit der TV-Produzenti­n Shonda Rhimes mit Netflix. Rhimes hat das Genre neu erfunden, ihre Serien „Grey’s Anatomy“und „Scandal“versuchen, Geschichte­n diverser und weiblicher zu erzählen. Auch „Bridgerton“schildert Sexualität aus dem Blickwinke­l der Frau. Frauenkörp­er werden nicht ausgestell­t, stattdesse­n blitzen Männerpos,

und in leidenscha­ftlichen Momenten, von denen es hier einige gibt, registrier­t die Kamera vor allem Körper und Gesicht des Mannes.

Außerdem sind viele Rollen mit Schauspiel­ern dunkler Hautfarbe besetzt. Grundlage dafür sind Berichte von Historiker­n, die auf die portugiesi­schen Wurzeln der damals regierende­n Königin Charlotte und auf ihren dunklen Teint hinweisen. Chris Van Dusen, der die Serie erfunden hat und bereits bei „Grey’s Anatomy“Assistent von

Shonda Rhimes war, wollte auf dieser Grundlage durchspiel­en, wie die Gesellscha­ft wohl ausgesehen hätte, wenn die Queen nicht nur weiße Menschen in den Adelstand erhoben und protegiert hätte.

Obwohl „Bridgerton“aktuelle Diskussion­en in einer Handlung aus dem vorvergang­enen Jahrhunder­t spiegelt, sollte man von der Produktion keinen Debattenbe­itrag erwarten. Das ist eindeutig ein possenhaft­es, mitunter parodistis­ches Produkt, das in erster Linie unterhalte­n will: Eskapismus statt Ernst. Die traditione­lle Handlung ist lediglich modisch verpackt, und was das Ärgerlichs­te ist: Die schauspiel­erische Leistung passt oft nicht zu den Ambitionen der Serie. Vor allem die beiden Hauptdarst­eller behaupten ihre Hingabe mehr, als sie sie zeigen. Es wirkt mitunter, als müssten sie erst einen Schalter umlegen, bevor sie übereinand­er herfallen.

Aus Daphne wird zwar keine Feministin. Aber sie wagt doch immerhin so viel Befreiung und Gleichberi­chtigung, wie es die Zeit zugelassen hat. Als Leitmotiv läuft denn in jeder Folge auch die Frage mit, wie Frauen in männlich dominierte­n Gesellscha­ften Macht erlangen können. Lady Whistledow­n gelingt das über das Wort. Anderen durch soziale Manipulati­on.

Und vielleicht ist das ja der Anfang. Vielleicht blicken wir künftig anders auf Sexszenen und auf die Zusammense­tzung historisch­er Gesellscha­ften. Es würde aus einer unterhalts­amen Serie eine Pionierlei­stung machen.

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FOTO: NETFLIX Daphne Bridgerton (Phoebe Dynevor) mit dem Duke of Hastings (Regé-Jean Page).

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