„Fehldiagnosen wegen Sprachbarrieren“
Interview Hannah Pohlen von der Medizinischen Flüchtlingshilfe über Probleme in der Gesundheitsversorgung
DÜSSELDORF Die Corona-Krise stellt die Medizinische Flüchtlingshilfe Düsseldorf (Medidus) vor große Herausforderungen. Medizin-Studierende der Heinrich-Heine-Uni hatten die ehrenamtliche Initiative 2015 gegründet, um die medizinische Versorgung von Flüchtlingen zu verbessern. So begleiten die Studierenden Flüchtlinge mit Dolmetschern bei Arztbesuchen, haben Wahlfächer entwickelt, um Mediziner besser auf die interkulturelle Zusammenarbeit vorzubereiten, und bilinguale Anamnesebögen. Mit diesen können sich Menschen auch auf sich gestellt einem Arzt verständlich machen. Ein Gespräch mit Hannah Pohlen (23), die Medidus seit Dezember 2020 als Projektkoordinatorin und wissenschaftliche Mitarbeiterin unterstützt.
Frau Pohlen, wie hart hat die Corona-Krise die Arbeit von Medidus getroffen?
HANNAH POHLEN Sie hat unsere Arbeit sehr verändert. Unsere Sprechstunde zum Erstellen der Anamnesebögen hat zwar lange unter hohen Corona-Schutzauflagen stattgefunden und auch die Begleitung bei Arztbesuchen haben unsere Studierenden durchgeführt, weil sie sehr engagiert sind, aber die Umstände sind bedeutend schwieriger. Durch die Pandemie und die immer wiederkehrenden Lockdowns versuchen wir viele unserer Angebote zu digitalisieren und haben bereits einige Angebote online möglich gemacht. Wir haben zudem weniger Menschen, die uns unterstützen können, gleichzeitig mehr Menschen, die krank werden und unsere Hilfe brauchen. Erschwerend kommt hinzu, dass viele Flüchtlinge keinen oder einen sehr unzureichenden Zugang zum Internet oder zu einem Computer haben.
Sind persönliche Begegnungen nicht essentiell für Ihre Arbeit mit Flüchtlingen?
POHLEN Auf jeden Fall. Der persönliche Kontakt kommt zurzeit zu kurz und macht es uns auch beim Schaffen einer Vertrauensbasis schwierig, zum Beispiel in unserer Sprechstunden sollen die Schutzsuchenden ja einem vollkommen Fremden ihre Krankengeschichte offenlegen um das bestmögliche Ergebnis für den Anamnesebogen zu erzielen. Da ist auch oft Scham im Spiel, wenn man sagen muss, dass das eigene Kind gegen keine der Krankheiten geimpft ist oder man auf die Frage, wann man zuletzt beim Zahnarzt war, sagen muss, dass man es noch nie war. Und durch die Mund-Nase-Bedeckungen und den Abstand ist der Kontakt immer unpersönlicher geworden und ohne Mimik und Gestik ist vieles schwieriger zu deuten.
Welchen Eindruck haben Sie von den Flüchtlingen, die Medidus betreut? POHLEN Wir stellen fest, dass bestimmte Krankheitsbilder immer öfter auftreten, darunter schwere seelische Erkrankungen und chronische Erkrankungen. Geflüchtete haben es aufgrund der sprachlichen, kulturellen und finanziellen Herausforderungen ohnehin schon schwer. Durch den Lockdown sind sie jetzt auch noch abgeschottet und werden isoliert. Viele Integrationsangebote, die sonst in Düsseldorf stattfinden, können wegen Corona nicht stattfinden. Menschen werden hier zu oft alleingelassen. Ganz abgesehen davon, dass es die Leute besonders betrifft, die Kinder haben.
Haben Sie ein Beispiel?
POHLEN Eine Patientin von uns, nennen wir sie mal Frau D., ist mehrfache Mutter mit Brustkrebsdiagnose, dass bedeutet, dass sie regelmäßig zu Kontroll- und Untersuchungsterminen muss. Seit langer Zeit begleiten wir Frau D. mit einem Team, das sich schon selbstorganisiert, was auch bei Frau D. auf Zuspruch trifft, weil sie sich immer über die bekannten Gesichter freut, aber ohne Unterstützung wären diese Termine nochmal eine ganz andere Herausforderung.
Zusätzlich zu den gegebenen Umständen stehen also auch hier aktuell Familien, in denen Elternteile krank sind, einer Arbeit nachgehen usw. vor einer großen Herausforderung, sich selbst und ihre Kinder, oft auf kleinstem Wohnraum, zu versorgen.
Wie gut kommen Menschen, die neu in Düsseldorf sind, mit dem Gesundheitssystem hier zurecht? POHLEN Für jemanden, der aus dem Ausland hierher kommt, ist das System sehr undurchlässig und schwer zu verstehen. Wenn man krank ist und weiß, dass man zum Hals-Nasen-Ohren-Arzt muss, dann ist es schwer zu verstehen, dass man erst zum Hausarzt gehen soll, weil man eine Überweisung braucht. Trotz dem Anrecht auf medizinische Versorgung bei akuten Erkrankungen, nehmen Menschen mit Migrationsund Fluchthintergrund viele gesundheitliche Leistungen seltener in Anspruch als die Mehrheitsbevölkerung, denn in der Realität scheitert die Behandlung oft an bürokratischen, sprachlichen und personellen Hürden.
Welche Folgen kann das im
Initiative der Studierenden mehrfach ausgezeichnet
Preise Alleine 2019 wurde Medidus mit dem „startsocial“-Preis unter Schirmherrschaft von Bundeskanzlerin Angela Merkel, mit dem Welcome-Preis von Bundesbildungsministerium und Deutsch Akademischem Austauschdienst sowie dem Multi-Kulti-Preis des Vereins Multikulturelles Forum ausgezeichnet.
Kontakt info@medidus.de https://medidus.de/
schlimmsten Fall haben?
POHLEN Dass Menschen falsch oder unzureichend beraten werden, Mehrfachuntersuchungen durchlaufen und mitunter verspätete oder unangemessene Therapien aufgrund von Fehldiagnosen erhalten. An diesen Punkten setzen wir an, denn unsere Vision als Initiative ist es, dass jeder Mensch in Deutschland Zugang zu einer adäquaten medizinischen Versorgung erhält.
Sind es viele Menschen aus ihrer Heimat nicht vielleicht auch gewohnt, bei einer Erkrankung direkt ins Krankenhaus zu gehen?
POHLEN Ja, total. Das muss man erst einmal erklären und transparent machen und das nimmt viel Zeit in Anspruch. Zusätzlich ist mit dem Gedanken ins Krankenhaus oder zum Arzt zu gehen, auch immer die Sorge um finanzielle Ausgaben verbunden, sodass Menschen oft auch zu spät einen Arzt aufsuchen.
Wie kommt denn der Kontakt zwischen Medidus und Geflüchteten zustande?
POHLEN Die Kontakte entstehen auf vielerlei Wegen. Wir betreuen geflüchtete Menschen, die teilweise bereits wegen des schwierigen Wohnungsmarkts in Düsseldorf seit mehreren Jahren in einer Unterkunft leben, aber auch Menschen, die bereits in einer eigenen Wohnung leben. Viele kennen unsere Arbeit über unsere Social-Media-Kanäle, über unsere Kooperationspartner wie das Hispi, das bei der sprachlichen Integration hilft, über unseren Pool an Ehrenamtlichen oder über Sozialarbeiter. Es kommen auch immer wieder Ärzte von sich aus auf uns zu, weil sie Hilfe bei der Verständigung mit einem Patienten brauchen.
Ist es in der Pandemie schwieriger für Medidus geworden, Unterstützer zu finden?
POHLEN Ich denke, dass durch die Corona-Krise geflüchtete Menschen aus dem Blick der Öffentlichkeit gerutscht sind, der Fokus liegt zurzeit auf anderen, für die breite Öffentlichkeit offensichtlichen, Themen, was auch verständlich ist. Das erschwert aber auch unsere Arbeit. Die Spendengeber, die wir haben, können uns aufgrund eigener Herausforderungen zurzeit nicht so unterstützen wie sonst. Derzeit finanzieren wir uns aus Mitteln der Heine-Uni, sowie aus Spenden und Geldern aus Wettbewerben. Deswegen haben wir unter https://gofund. me/66d46317 jetzt auch eine Spendenaktion ins Leben gerufen.
Ist die Integrationsarbeit in der Corona-Krise nicht generell etwas ins Stocken geraten?
POHLEN Ja, auch andere Formen der Integrationsarbeit finden zurzeit nur selten oder nur noch online statt und das führt zu einer Isolation, die eigentlich in niemandes Wille ist. Wir versuchen da ein Zeichen zu setzen, zeigen, dass wir die Geflüchteten nicht vergessen haben. Vor Weihnachten haben wir zum Beispiel ca. 250 individuell verpackte Geschenke in mehrere Unterkünfte gebracht und viele haben sich auch darüber gefreut, mit jemandem sprechen zu können, auch wenn es nur unter Corona-Auflagen möglich war.
Welche Projekte stehen bei Medidus als nächstes an?
POHLEN Ganz wichtig sind uns die Weiterentwicklung unseres E-Learning-Angebots und die wissenschaftliche Evaluierung unseres Projekts mit der Universität und dem Uniklinikum, um unsere Arbeit langfristig zu verbessern. Zudem ist Medidus Teil einer übergeordneten Vereinigung von Initiativen ähnlicher Art, genannt MSFR (Medical Students for Refugees), die versucht, ihre Konzepte in andere Städte zu transferieren. In diesem Jahr wollen wir uns vor Ort oder je nach Corona-Lage digital mit verschiedenen Städten austauschen. Außerdem haben wir langfristig vor eine Version unsere App, über die sich Dolmetscher, Sozialarbeiter, Ärzte und der jeweilige Medizin Studierende austauschen können, anderen Städten zur Verfügung zu stellen, weil es die Arbeit ungemein erleichtert. Sie können sich das sicher vorstellen: Wenn Sie drei Parteien haben, dann weiß die eine Hand irgendwann nicht mehr, was die andere macht. (lacht).
Wie kann man die Arbeit von Medidus zurzeit am besten unterstützen?
POHLEN Über unsere Online-Spendenkampagne, wo wir unsere Arbeit auch in einem Imagefilm vorstellen. Vor kurzem gab es aber auch einen Herrn, der ITler ist und uns eine E-Mail schrieb: Er kam damit genau zur richtigen Zeit und könnte uns beim Aufbau unseres E-Learning-Programms helfen. Das heißt, es ist nicht immer das Finanzielle, es kann auch Sachexpertise sein oder einfach der Wunsch sich einzubringen, und dann finden wir gemeinsam eine passende Möglichkeit.