Corona-Krise: Eltern schlagen häufiger zu
Die Stadt Hilden verzeichnete nach dem ersten Lockdown einen drastischen Anstieg der Fälle im Bereich Kindeswohlgefährdung um 35 Prozent. Die Mitarbeiter der Sozialen Dienste rechnen beim zweiten Lockdown mit ähnlichen Zahlen.
HILDEN Die Corona-Krise hat zu einem erschreckenden Anstieg von Gewalt gegen Kinder in Hilden geführt. Laut Stadt liegt die Steigerung bei 35,2 Prozent im Falle einer möglichen Kindeswohlgefährdung – im Bereich der Inobhutnahmen beträgt die Steigerung sogar 77,33 Prozent. Im ersten Lockdown im Frühjahr sanken die Zahlen zunächst, da Schulen sowie Kitas geschlossen waren. Auch das Vereinsleben lag brach. Dort fallen Verletzungen in der Regel auf. Doch danach stiegen die Zahlen deutlich an. „Wir wussten, dass uns Corona erwischen wird“, erklärt Wibke Pass, Leiterin der Sozialen Dienste in Hilden: „Aber diese Zahlen haben uns erschreckt.“
Bis April sind die Mitarbeiter des Sozialen Diensts im Durchschnitt 8,75 Mal pro Monat wegen einer möglichen Kindeswohlgefährdung aktiv geworden. Anschließend stieg diese Zahl auf 11,83 im Monat. „Ähnliches lässt sich für den Bereich der Inobhutnahmen zum Schutz von Kindern oder Jugendlichen aufzeigen. In den ersten beiden Monaten dieses Jahres wurden drei Kinder gemäß dem Wächteramt außerhalb des Elternhauses und gegen den Willen der Sorgeberechtigten Eltern untergebracht“, heißt es in einem Bericht der Sozialen Dienste. Demnach erfolgten im März und April „keine Schutzmaßnahmen, da keine Kindeswohlgefährdungsmeldungen eingingen“. Nach dem Lockdown sind im Durchschnitt 2,66 Kinder oder Jugendliche im Monat in Obhut genommen worden. „Bei den Meldungen häuslicher Gewalt handelt es sich tendenziell eher um Fälle, in denen sich die Gewalt gegen Kinder und Jugendliche richtet. Hinzu kommen vermehrt Hinweise über Verwahrlosung“, erklärt Wibke Pass.
Die Mischung aus räumlicher Nähe durch die Schule- und Kita-Schließungen, aus finanziellen Sorgen der Eltern, die vielleicht sogar in Kurzarbeit sind oder ihren Arbeitsplatz verloren haben, sowie aus Angst und Depressionen sind laut einer Studie der Technischen Uni München und dem Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Gründe für die Steigerung von Gewalt gegen Kinder. Aber nicht nur Kinder werden Opfer von Gewalt: Frauen sind im ersten Lockdown ebenfalls häufiger geschlagen oder vergewaltigt worden.
Auch die aktuelle Situation bereitet den Mitarbeitern Sorgen: „Die Erfahrungen aus dem ersten Lockdown haben gezeigt, dass die Meldungen währenddessen zurückgingen, jedoch anschließend deutlich anstiegen. Es wird erwartet, dass sich der Effekt nach dem aktuellen Lockdown wiederholt“, sagt Wibke Pass mit Blick auf Gewalt gegen Kinder.
Der Stadt fehlt an dieser Stelle Personal, erklärte Jugend- und Sozialdezernent Sönke Eichner. Die Stellenzahl wird nach einem Fallzahlenschlüssel berechnet – doch die Fallzahlen lagen zuvor unter den aktuellen, die Stellenzahl war entsprechend angepasst. „Wir sind bemüht, intern kreative Lösungen zu finden, um uns über das Jahr 2021 zu retten“, erklärte er.
Konkret bedeutet das: Zum Jahresanfang haben zwei Fachkräfte den Allgemeinen Sozialen Dienst verlassen. „Die Verteilung der Fälle erfolgt auf die verbleibenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, was zu einer temporären Mehrbelastung führt“, erklärt Wibke Paas. Es laufe ein Bewerbungsverfahren für die offenen Stellen. „Aufgrund der Fluktuation in diesem Fachbereich in den vergangenen Jahren, wurde ein Konzept zur Einführung eines Mentoring entwickelt. Damit sollen berufsjunge neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gut und vollumfänglich in das umfangreiche Themenfeld der Arbeit im Allgemeinen Sozialen Dienst eingearbeitet werden. Ziel ist eine zeitnahe Übernahme eigener Fälle in enger Begleitung des Mentoren. Stellenanteile konnten aufgrund von Aufgabenumverteilungen hierfür generiert werden. Das Mentoring soll mit Neubesetzung der vakanten Stellen Anfang 2021, zunächst in einer Testphase, starten.“Insgesamt werde auf Basis der Fallzahlenentwicklung, der Meldung an Kindeswohlgefährdungen sowie dem bei intensiven Fällen zusätzlich entstehenden Verwaltungsaufwand der Personalbedarf aktuell ermittelt und kann im Rahmen des Stellenplanverfahrens eingebracht werden.
Was passiert eigentlich, wenn die Schule, die Kita oder die Polizei die Sozialen Dienste auf eine mögliche Kindswohlgefährdung aufmerksam macht? „Das löst immer einen formalisierten Standardprozess hinterlegt mit verbindlichen Qualitätsstandards aus“, erklärt Wibke Paas. Nach Rücksprache mit der Sachgebietsleitung führen je nach Gefährdungseinschätzung am Tag der Meldung zwei Mitarbeiter einen Hausbesuch durch. „Alternativ erfolgt dieser in den folgenden Tagen oder es wird ein Gespräch mit den Sorgeberechtigten in der Dienststelle geführt. Ein Kind oder Jugendlicher wird nur bei akuter und unabwendbare Kindeswohlgefährdung sowie fehlender Mitwirkung der Sorgeberechtigten in Obhut genommen.“
Sollte es tatsächlich dazu kommen, werden die Kinder in den Pädagogischen Ambulanzen der evangelischen Jugend- und Familienhilfe untergebracht. „Eine Perspektivenklärung erfolgt unmittelbar nach der Unterbringung, hiernach richtet sich der Verbleib. Die Rückführung des Kindes oder des Jugendlichen hat immer Priorität und wird in Zusammenarbeit mit den Sorgeberechtigten erarbeitet. Dies gelingt leider nicht immer in allen Fällen“, erklärt Wibke Paas weiter.