Ein Lexikon als soziales Netzwerk
Vor 20 Jahren wurde Wikipedia gegründet. Johann Lensing ist auf der Plattform aktiv und erklärt, was ihn daran so fasziniert.
DÜSSELDORF Eigentlich war Johann Lensing schon kurz davor aufzugeben. Zwei Artikel hatte er für das Online-Lexikon Wikipedia geschrieben, beide genügten den Relevanzkriterien der Plattform nicht – und wurden gelöscht. „Mit 14 hat mich das ziemlich entmutigt. Aber ich habe weitergemacht“, sagt er heute, „und bin froh darüber.“Lensing ist 20 Jahre alt – genauso alt wie Wikipedia selbst. Die englischsprachige Ursprungsversion ging am 15. Januar 2001 online. Inzwischen gibt es die größte Universalenzyklopädie aller Zeiten in 309 Sprachen, das deutschsprachige Lexikon ist mit mehr als 2,5 Millionen Artikeln das viertgrößte weltweit.
Das Prinzip ist einfach: Wissen von allen und für alle – jeder darf mitgestalten, Artikel schreiben, bearbeiten und erweitern. Jeden Tag nutzen bis zu 40 Millionen Menschen allein in Deutschland das kostenfreie Angebot, rund 5000 Freiwillige arbeiten daran hierzulande aktiv mit. Einer von ihnen ist Johann Lensing aus Gerresheim.
Der 20-jährige Wikipedianer – wie sich die Aktiven selbst nennen – verbringt pro Woche mehrere Stunden auf der Plattform. Ehrenamtlich, versteht sich – auch das ist Teil des Konzepts. Dahinter steckt in Deutschland der Verein Wikimedia, der sich aus Spenden finanziert und auch eine eigene Stiftung betreibt. Rund 150 hauptamtliche Mitarbeiter
hat der Verein eigenen Angaben zufolge, 2020 spendeten mehr als 360.000 Menschen insgesamt 8,7 Millionen Euro für das Projekt.
Für Johann Lensing, der an der Heinrich-Heine-Universität Philosophie, Politik und Wirtschaft studiert, geht es dabei nicht nur darum, eigene Lexikon-Einträge zu verfassen. Dafür wendet er, wie er sagt, nur einen Bruchteil seiner Zeit auf und konzentriert sich vor allem auf Themen, die seinen Interessen nahe liegen – junge Politiker beispielsweise, aufstrebende Musiker oder Filme. „Die meiste Zeit verbringe ich aber damit, andere Artikel zu überprüfen und zu bearbeiten“, sagt er. Dazu gehört zum Beispiel der Eintrag über die Landeshauptstadt.
Lensing ist einer von 935 Autoren, die an dem Artikel mitgearbeitet haben. Im vergangenen Jahr wurde der Düsseldorf-Artikel mehr als 450.000 Mal aufgerufen – Wikipedia ist häufig die erste Quelle für viele Internetnutzer, wenn es um kurz zusammengefasste, prägnante Informationen geht. Eine eigene Redaktion gibt es nicht, die Einträge werden ausschließlich von Ehrenamtlern wie Lensing überprüft, der dafür unter anderem journalistische Quellen und wissenschaftliche Plattformen wie Pubmed oder Google Scholar nutzt. Für neue Artikel gelten von der Community festgelegte Relevanzkriterien, „daran muss sich jeder neue Autor halten, sonst wird bereits die Qualitätskontrolle zur ersten Hürde“, sagt eine
Wikimedia-Sprecherin. Ansonsten setzt das Online-Lexikon auf die sogenannte Schwarmintelligenz, „und das funktioniert immer noch ziemlich gut“.
Studien zufolge enthält Wikipedia nicht wesentlich mehr Fehler als gedruckte Lexika wie die Encyclopaedia Britannica oder der Brockhaus. „Eine gewisse Fehleranfälligkeit ist da“, sagt Johann Lensing dazu, „allerdings ist es eben auch ein Freiwilligen-Projekt.“Für den 20-Jährigen spielt aber ohnehin noch ein ganz anderer Aspekt eine große Rolle: das soziale Miteinander.
„Wir vernetzen uns auch offline, zum Beispiel bei Stammtischen.“In Corona-Zeiten dann zwar eher per Videochat als in der Kneipe, dennoch steht für den 20-Jährigen fest: „Für Aktive ist Wikipedia wie ein soziales Netzwerk.“Es gebe unter anderem interne Workshops, gemeinsame Besuche in Museen oder Archiven und das jährliche Community-Treffen Wikicon. „Da können alle kommen, die bei einem der vielen Wikimedia-Projekte mitmachen“, sagt Lensing.
Die Aktivitäten des Vereins gehen weit über das bekannteste Produkt hinaus. So gibt es zum Beispiel Wikimedia Commons, eine Datenbank für frei verfügbare Foto-, Video- und Audiodateien, und den Reiseführer Wikivoyage. Auch dafür engagiert sich Lensing, stellt Fotos von Gerresheimer Sehenswürdigkeiten ein oder besucht als akkreditierter Fotograf Messen wie die Spiel.
In Düsseldorf sind rund ein Dutzend Wikipedianer so aktiv wie Lensing. Unregelmäßig treffen sie sich zu einem Stammtisch, erzählt er, „die Gruppen in Köln oder im Ruhrgebiet sind allerdings aktiver“. In Köln hat der Verein sogar ein eigenes Ladenlokal angemietet, das „Lokal K“in Ehrenfeld. Bundesweit gibt es nur sechs solcher Räume, darunter in München, Berlin und Hamburg.
Auch Johann Lensing war schon einmal dort, um einen Workshop zu besuchen. Für den 20-Jährigen ist das Online-Lexikon ein Hobby – und die Chance, Gleichgesinnte zu finden und sich mit ihnen auszutauschen. Nachdem seine ersten beiden Artikel als nicht relevant eingestuft wurden, sei es ihm nicht leicht gefallen, dabei zu bleiben. Aber das Feedback sei konstruktiv gewesen, der Austausch nett. „Letztlich hat mich etwas bei der Stange gehalten, an das man bei einem Online-Lexikon gar nicht unbedingt denkt“, sagt er, „die Offenheit und die Gemeinschaft der vielen Wikipedianer.“
Doch auch die Community müsste sich Lensing zufolge noch weiterentwickeln: Bislang sind die Aktiven bei Wikipedia vor allem weiß und männlich. „Das würde ich gerne ändern und auch mehr Nicht-Akademiker ins Boot holen.“Mehr Gerechtigkeit und Fairness seien auch Ziele der gemeinsamen Strategie Wiki2030, sagt er. „Wenn das klappt, kann ich mir vorstellen, mich auch dann noch auf der Plattform zu engagieren.“