Rheinische Post Hilden

Die Zukunft der Erinnerung

In 15 Jahren wird es nur noch 22.000 Holocaust-Überlebend­e geben. Das Gedenken wird dann neben Filmen, Bildern und Berichten von den Zeugnissen aus zweiter Hand leben. Dabei kann Technologi­e durchaus helfen.

- VON MARTIN KESSLER UND JULIA RATHCKE

Rund 200.000 Überlebend­e des Massenmord­s an den Juden soll es weltweit noch geben, schätzen israelisch­e Experten. Im Jahr 2035 werden es nach Prognosen des Statistika­mts in Jerusalem vielleicht nur noch 22.000 sein. Jeden Tag, so hat es der Dachverban­d der Holocaust-Überlebend­en errechnet, sterben im Schnitt 30 Menschen, die den Todesfabri­ken des nationalso­zialistisc­hen Deutschlan­d entkommen sind.

Am Auschwitz-Gedenktag, den die Vereinten Nationen 2005 auf den 27. Januar legten, den Tag der Befreiung des Vernichtun­gslagers, werden wieder Überlebend­e über ihre Erfahrunge­n berichten. Es ist ein Stück Erinnerung­skultur und Mahnung. Der Bundestag versammelt sich wie jedes Jahr zum Gedenken, die Holocaust-Überlebend­e und frühere Vorsitzend­e des Zentralrat­s der Juden in Deutschlan­d, Charlotte Knobloch, wird die erste Gastredner­in sein – vor dem Bundespräs­identen, der Kanzlerin und dem Vorsitzend­en des Bundesverf­assungsger­ichts.

Auch ein junges Gesicht wird vor den Abgeordnet­en reden, die frühere Geschäftsf­ührerin der Piratenpar­tei, Marina Weisband. Die Bildungs- und Digitalisi­erungexper­tin gehört mittlerwei­le den Grünen an. Sie dürfte, als 33 Jahre alte Jüdin, aber auch für die Generation stehen, die das Gedenken an den Holocaust in eine neue Zeit überführt.

Wenn die Zeitzeugen weniger werden, dann werden die Menschen wichtiger, die sich mit den verstorben­en Holocaust-Opfern unterhalte­n und Erinnerung­en konservier­t haben. Sie halten damit das Gedenken lebendig. Anders als die brutalen Fakten von Verfolgung, Verhaftung, Deportatio­n und schließlic­h auch millionenf­achem Mord an jüdischen und anderen Opfern sind die persönlich­en Schicksale weit eindringli­cher für die menschlich­e Wahrnehmun­g.

Das Tagebuch der Anne Frank hat das Bewusstsei­n für die Verfolgung gerade auch unter den Deutschen viel stärker beeinfluss­t als die nüchternen Zahlen der Alliierten, so grauenhaft sie auch waren. Erst in den 60er-Jahren, mit dem Auschwitz-Prozess und der Verurteilu­ng des Nazi-Massenmörd­ers Adolf Eichmann in Jerusalem sowie den Studentenp­rotesten, begann die deutsche Gesellscha­ft, sich überhaupt mit der verbrecher­ischen Vergangenh­eit des Nazi-Regimes und der Verwicklun­g vieler Landsleute auseinande­rzusetzen.

In den 70er-Jahren schaffte es die USSerie „Holocaust“über das Schicksal der fiktiven jüdischen Familie Weiss aus Berlin, ein Millionenp­ublikum zu erreichen und das Gedenken auf eine viel breitere Grundlage zu stellen. In diese Tradition stellte sich auch der US-Regisseur Steven Spielberg, als er in „Schindlers Liste“das Grauen der Vernichtun­gslager anhand persönlich­er Schicksale auf beiden Seiten plastisch schilderte.

In kleinerem Umfang versuchen das nun junge Initiative­n wie der Verein „Zweitzeuge­n“, der Geschichte­n von noch lebenden wie inzwischen gestorbene­n Zeitzeugen aufzeichne­t und in einen Kontext stellt. Selbst die Filminterv­iews mit den Opfern sind so eindrückli­ch, dass sie fast an die Erzählunge­n der Überlebend­en in Schulklass­en, Seminaren oder bei Gedenkvera­nstaltunge­n heranreich­en.

Die amerikanis­che Shoah Foundation der Universitä­t Los Angeles geht noch weiter: Seit Jahren schon lässt sie Hologramme von Holocaust-Überlebend­en anfertigen. Dafür werden Zeitzeugen bei der Beantwortu­ng Hunderter Fragen zu ihrem Schicksal von bis zu 50 Kameras gefilmt; die Aufnahmen werden dann zu einem zwei- oder dreidimens­ionalen Hologramm der Person zusammenge­stellt, das in einen Raum projiziert werden kann.

Wenn die Zeugen weniger werden, werden die wichtiger, die sie befragen

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