Seien wir langmütiger
Politiker sollen nahbar sein. Aber wenn sie dann mal loslegen, ist es auch falsch.
Kennen Sie Clubhouse? Die neue App, von der gerade alle in der Hauptstadt reden? Die wie eine Mischung aus großer Whatsapp-Gruppe oder Zoom-Konferenz ohne Bild funktioniert? Von Altkanzler Gerhard Schröder bis zum Netzaktivisten Sascha Lobo treffen sich sehr unterschiedliche Menschen dort, und ich war auch dabei. Und schnell wieder weg, aus Zeitmangel. Aber dass Bodo Ramelow sich dort mit Bemerkungen über die Kanzlerin („Merkelchen“) und seinen Neigungen zu Computerspielen während langer Sitzungen um Kopf und Kragen redete, ging auch an mir nicht vorbei. Ramelow steht schlecht da, weil er den Charakter der Plattform angeblich
ELISABETH NIEJAHR
falsch einschätzte, als vertrauliche Runde, trotz der vierstelligen Zahl von Teilnehmern. Ich finde: Der Finger zeigt auch auf diejenigen zurück, die sich echauffieren. Politiker sollen authentisch und nahbar sein, heißt es. Gerade die Deutschen schätzen ihre Spitzenpolitiker nicht wegen ihrer Star- und Modelqualitäten, im Gegenteil. Das war bei Helmut Kohl nicht anders als bei der unprätentiös wirkenden Kanzlerin; auch Armin Laschet passt in dieses Bild.
Reden Politiker allerdings wirklich ungeschützt daher, ist es dann auch wieder nicht recht. So entsteht nur eine neue Spielart von Künstlichkeit, eine inszenierte Normalität. Besser wäre eine andere Fehlerkultur: Wir brauchen Bürger und professionelle Beobachter, die kritisch auf ihre Politiker schauen – aber nicht vergessen, dass auch die nur Menschen sind. Die Allgegenwart von Handykameras hat Politiker schon viel vorsichtiger werden lassen. Ohne Fehlerkultur überleben im Politikbetrieb nur die Geschliffenen, rhetorisch Disziplinierten, nur Verteidiger, nicht Angreifer – und genau davon profitieren Populisten wie Donald Trump oder Boris Johnson mit ihrer Lust an Provokation. Seien wir im Umgang mit rhetorischen Fehltritten von Politikern etwas langmütiger.
Unsere Autorin ist Geschäftsführerin der Hertie-Stiftung in Berlin. Sie wechselt sich hier mit Kerstin Münstermann und Jan Drebes ab.