Portugals Corona-Katastrophe
Das Gesundheitssystem des Landes kollabiert. Mitten im Lockdown wurde der Präsident wiedergewählt.
MADRID/LISSABON Die Leichenhalle des Krankenhauses Barreiro Montijo in Lissabon ist voll. So voll, dass nun vor dem Hospital zwei Kühlcontainer aufgestellt wurden, um die vielen Corona-Toten bis zur Bestattung aufzubewahren. Immer mehr an Covid-19 erkrankte Menschen sterben in Portugal, weil es auf den Intensivstation keine freien Betten mehr gibt.
Man müsse vielerorts die Regeln der Katastrophenmedizin – die Triage – anwenden, sagt Miguel Guimarães, Chef der Ärztekammer. Wenn es für zwei Notfallpatienten nur ein Beatmungsgerät gibt, bekommt derjenige mit den besseren Überlebenschancen Vorrang.
„Die Krankenhäuser befinden sich am Limit“, räumt Gesundheitsministerin Marta Temido ein. Vor vielen Hospitälern stauen sich Ambulanzen, die wegen der Überfüllung der Krankenhäuser oft stundenlang warten müssen, bis sie ihre Covid-19-Patienten an die Notaufnahme übergeben können. Deswegen werden nun im ganzen Land Feldlazarette aufgebaut. Allein zwei provisorische Hospitäler wurden in Lissabon installiert.
Im Frühjahr 2020 war Portugal noch als Musterknabe gefeiert worden. Als Land, das dank einer disziplinierten Bevölkerung und vorausschauenden Regierung im Anti-Viren-Kampf offenbar alles richtig gemacht hatte. Doch möglicherweise hat sich die Nation zu sehr darauf vertraut, dass sie auch die neue Viruswelle nur streifen würde. Ein Trugschluss: Portugal wird seit einigen Tagen von einem wahren Corona-Tsunami überrollt.
Ein Tsunami, der das EU-Land am Atlantik über Nacht zum schlimmsten Hotspot Europas und sogar der Welt machte. Nach Berechnungen der amerikanischen Johns-Hopkins-University schoss die Sieben-Tage-Inzidenz auf über 820 Fälle pro 100.000 Einwohner. Das ist siebenmal so viel wie zum Beispiel in Deutschland. Zudem wurden zuletzt mehr als 270 Corona-Tote in 24 Stunden gemeldet. Höchststände und absolute Horrorzahlen für dieses vergleichsweise kleine Land, in dem 10,3 Millionen Menschen leben.
Die deutsche Bundesregierung hat Portugal ab Mittwoch als Corona-Risikogebiet mit besonders gefährlichen Virusmutationen eingestuft: Der britische Erregertyp B 1.1.7. ist auf dem Weg, zur vorherrschenden Variante in Portugal zu werden. Ein Szenario, das inzwischen ganz Europa besorgt. Angesichts der Entwicklung im Land gibt Premier António Costa zu, dass es ein Fehler war, über Weihnachten und Silvester die Zügel locker zu lassen: „Mit den heutigen Daten hätten wir nicht erlaubt, was wir damals erlaubt haben.“Familien- und Freundestreffen in Privaträumen waren über die Festtage praktisch ohne Limit möglich, Bars und Restaurants waren geöffnet.
Ausgerechnet inmitten dieser katastrophalen Virusexplosion fanden am Sonntag in Portugal Präsidentenwahlen statt. Die Mobilisierung von neun Millionen Stimmberechtigten sei ein Risiko, hatten Epidemiologen
gewarnt. Doch eine Verschiebung der Wahl sei aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht möglich gewesen, erklärte die Regierung.
Die Zahl der Infektionen schreckte viele Stimmberechtige ab – die Wahlbeteiligung sank mit knapp 40 Prozent auf ein Minimum. Doch das hat dem alten und neuen Amtsinhaber Marcelo Rebelo de Sousa, dem „Selfie-Präsidenten“, der sich gerne mit Bürgern ablichten lässt, nicht geschadet. Der Rechtsprofessor, der auf der Straße meist nur „Marcelo“oder „Professor“gerufen wird, ist schon seit Jahren die populärste Persönlichkeit des Landes – noch vor der Fußballikone Cristiano Ronaldo. Die hemdsärmelige Art des konservativen Katholiken gefällt sogar dem sozialistischen Costa so gut, dass er dessen erfolgreiche Wiederwahl unterstützte.
Der Premier hat Mitte Januar einen neuen harten Lockdown verordnet, zu dem die „Bürgerpflicht“gehört, zu Hause zu bleiben. Gaststätten und nicht essenzielle Geschäfte mussten schließen. Am vergangenen Freitag wurden Schulen und Unis dichtgemacht. Nur für den Supermarkt, die Schule, die Arbeit, für Arztbesuche und einen Spaziergang dürfen die Portugiesen raus – am Sonntag war zudem der Besuch des Wahllokals erlaubt.