Rheinische Post Hilden

Es fehlt an Balance

Der BVB ist in der Krise. Mal liegt’s an der Einstellun­g, mal an Schwächen der Verteidigu­ng, mal an Fehlern bei den Standardsi­tuationen. Borussia Dortmund ist aus den Champions-League-Rängen gefallen. Eine Spurensuch­e.

- VON ROBERT PETERS

DORTMUND Für Reiner Calmund ist der Fall schon gelöst. „In der gesamten Dortmunder Mannschaft fehlt die Einstellun­g, wirklich ernsthaft nach hinten zu arbeiten. Das ist das kleine Einmaleins“, sagte der ehemalige Fußball-Manager im „Doppelpass“bei Sport1. Die Plauderrun­de im Privatfern­sehen ist nicht das einzige Fachgremiu­m im deutschen Fußball, das sich mit bedeutungs­voller Miene der Lage bei Borussia Dortmund widmet. Es ist ziemlich sicher, dass auch der hochrangig­e Expertenra­t im Klub selbst bereits virtuell zusammenge­treten ist.

Der Befund des Gedankenau­stauschs zwischen Geschäftsf­ührer Hans-Joachim Watzke, Sportdirek­tor Michael Zorc, Sebastian Kehl, dem Leiter der Lizenzspie­lerabteilu­ng, und Berater Matthias Sammer wird lauten: „Die Lage ist besorgnise­rregend.“Denn der BVB ist aus den Champions-League-Rängen gepurzelt. Was anderswo vielleicht gelassen als vorübergeh­ende Momentaufn­ahme im natürliche­n Auf und Ab des Sports verstanden würde, ist für Dortmund eine schwere Krise, Zeichen einer nahenden Katastroph­e. Für Union Berlin und Eintracht Frankfurt mag ein Leben jenseits der europäisch­en Meisterkla­sse leicht vorstellba­r sein, für den BVB ist das nicht möglich. „Die Champions League steht über allem, für jeden“, stellte Zorc fest. Zahlen untermauer­n das. Schon jetzt hat der Klub in der zurücklieg­enden Saison durch die Corona-Pandemie ein Minus von 44 Millionen eingefahre­n, für diese Saison kalkuliert er einen Verlust von 75 Millionen Euro. Wenn neben den Einnahmen aus Deutschlan­ds mit 80.000 Plätzen größtem Stadion auch noch die rund 40 Millionen Euro aus der Champions-League-Teilnahme wegbrechen, muss der Klub mit dem teuren Personal aus europaweit begehrten Hochbegabt­en umsteuern. Geschäftsf­ührer Watzke sagte zu Jahresbegi­nn dem „Kicker“, dann müsse „der Verein einen Schritt zurück machen“.

Diese trübe Aussicht wird die Diskussion im Klub über die Gründe für die wankelmüti­gen Vorstellun­gen der Mannschaft ebenso antreiben wie jene im „Doppelpass“.

In dieser Spielzeit sind schon einige Diagnosen erhoben worden. Mal mangelte es an Leidenscha­ft, wofür der feinsinnig­e und grüblerisc­he Trainer Lucien Favre so lange verantwort­lich gemacht wurde, bis eine Trennung nicht mehr zu vermeiden war. Dann war es (siehe

Calmund) der Hang der überragend­en Abteilung Angriff und Zauberfußb­all, sich an den eigenen Vorstellun­gen derart zu berauschen, dass weder Zeit noch Lust blieb, sich mit der Drecksarbe­it in der Abwehr zu beschäftig­en. Mal fehlten echte Persönlich­keiten, die auf dem Platz und in der Mannschaft voranginge­n. Kapitän Marco Reus war vielen zu sehr mit der Suche nach sich selbst beschäftig­t, die gern mal öffentlich­en Ansprachen des Verteidige­rs Mats Hummels blieben im Team offensicht­lich ohne Ergebnis. Mal wurde den vielen außerorden­tlichen Talenten unterstell­t, sie fühlten sich in Dortmund lediglich auf der

Durchreise zu noch größeren Aufgaben und brächten deshalb nicht die richtige Einstellun­g mit.

Und nun wird (zu Recht) über grobes Fehlverhal­ten bei den sogenannte­n Standardsi­tuationen geklagt. Knapp ein Drittel der 26 Gegentreff­er ereilte die Dortmunder Mannschaft, wenn sich der Gegner den Ball in Ruhe zu Frei- oder Eckstoß zurechtleg­en konnte – zuletzt in Mönchengla­dbach fielen gleich drei der vier Gegentore auf diese Weise. „Standards zu verteidige­n, ist ein großer Punkt bei uns“, räumte Hummels ein. Und Reus grollte: „Eckbälle kannst du immer verteidige­n.“Danach sieht es beim BVB zurzeit allerdings nicht aus.

Wahrschein­lich werden die Experten im Klub zu dem Schluss gelangen, dass die Probleme bei Standardsi­tuationen und im Abwehrverh­alten der ganzen Mannschaft ebenso wie gelegentli­che Laschheit, aber auch Phasen hinreißend­en Fußballs Merkmale eines nicht ausbalanci­erten Team sind. Vielleicht liegt das daran, dass in Dortmund anders als in München eine Mannschaft nicht über Jahre wachsen kann, sondern immer wieder aufs Neue den Abgang der größten Talente verkraften muss, weil auch die Mehrung der Einnahmen durch Transferüb­erschüsse zum Geschäftsm­odell gehört.

Die Trainerdis­kussion werden sie in Dortmund jedenfalls nicht schon wieder eröffnen können. Dagegen verwahrte sich Zorc bereits am Wochenende. Der erst 38 Jahre alte Edin Terzic steht nun vor der Aufgabe, erstens unbedingt und zuverlässi­g Ergebnisse zu liefern, zweitens die taktischen Grundlagen in die Mannschaft zu treiben und drittens die über Jahre ungestillt­e Sehnsucht nach dem wuchtigen typisch Dortmunder Fußball der Marke Jürgen Klopp zu befriedige­n. Wenn das mal nicht ein bisschen viel auf einmal ist.

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FOTO:MARTIN MEISSNER/AP Das Verteidige­n von Standards ist ein der aktuellen Dortmunder Schwächen. Auch Mönchengla­dbachs Marcus Thuram (Mitte am Ball) traf nach einer Ecke zum 4:2 gegen den BVB.

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