Es fehlt an Balance
Der BVB ist in der Krise. Mal liegt’s an der Einstellung, mal an Schwächen der Verteidigung, mal an Fehlern bei den Standardsituationen. Borussia Dortmund ist aus den Champions-League-Rängen gefallen. Eine Spurensuche.
DORTMUND Für Reiner Calmund ist der Fall schon gelöst. „In der gesamten Dortmunder Mannschaft fehlt die Einstellung, wirklich ernsthaft nach hinten zu arbeiten. Das ist das kleine Einmaleins“, sagte der ehemalige Fußball-Manager im „Doppelpass“bei Sport1. Die Plauderrunde im Privatfernsehen ist nicht das einzige Fachgremium im deutschen Fußball, das sich mit bedeutungsvoller Miene der Lage bei Borussia Dortmund widmet. Es ist ziemlich sicher, dass auch der hochrangige Expertenrat im Klub selbst bereits virtuell zusammengetreten ist.
Der Befund des Gedankenaustauschs zwischen Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke, Sportdirektor Michael Zorc, Sebastian Kehl, dem Leiter der Lizenzspielerabteilung, und Berater Matthias Sammer wird lauten: „Die Lage ist besorgniserregend.“Denn der BVB ist aus den Champions-League-Rängen gepurzelt. Was anderswo vielleicht gelassen als vorübergehende Momentaufnahme im natürlichen Auf und Ab des Sports verstanden würde, ist für Dortmund eine schwere Krise, Zeichen einer nahenden Katastrophe. Für Union Berlin und Eintracht Frankfurt mag ein Leben jenseits der europäischen Meisterklasse leicht vorstellbar sein, für den BVB ist das nicht möglich. „Die Champions League steht über allem, für jeden“, stellte Zorc fest. Zahlen untermauern das. Schon jetzt hat der Klub in der zurückliegenden Saison durch die Corona-Pandemie ein Minus von 44 Millionen eingefahren, für diese Saison kalkuliert er einen Verlust von 75 Millionen Euro. Wenn neben den Einnahmen aus Deutschlands mit 80.000 Plätzen größtem Stadion auch noch die rund 40 Millionen Euro aus der Champions-League-Teilnahme wegbrechen, muss der Klub mit dem teuren Personal aus europaweit begehrten Hochbegabten umsteuern. Geschäftsführer Watzke sagte zu Jahresbeginn dem „Kicker“, dann müsse „der Verein einen Schritt zurück machen“.
Diese trübe Aussicht wird die Diskussion im Klub über die Gründe für die wankelmütigen Vorstellungen der Mannschaft ebenso antreiben wie jene im „Doppelpass“.
In dieser Spielzeit sind schon einige Diagnosen erhoben worden. Mal mangelte es an Leidenschaft, wofür der feinsinnige und grüblerische Trainer Lucien Favre so lange verantwortlich gemacht wurde, bis eine Trennung nicht mehr zu vermeiden war. Dann war es (siehe
Calmund) der Hang der überragenden Abteilung Angriff und Zauberfußball, sich an den eigenen Vorstellungen derart zu berauschen, dass weder Zeit noch Lust blieb, sich mit der Drecksarbeit in der Abwehr zu beschäftigen. Mal fehlten echte Persönlichkeiten, die auf dem Platz und in der Mannschaft vorangingen. Kapitän Marco Reus war vielen zu sehr mit der Suche nach sich selbst beschäftigt, die gern mal öffentlichen Ansprachen des Verteidigers Mats Hummels blieben im Team offensichtlich ohne Ergebnis. Mal wurde den vielen außerordentlichen Talenten unterstellt, sie fühlten sich in Dortmund lediglich auf der
Durchreise zu noch größeren Aufgaben und brächten deshalb nicht die richtige Einstellung mit.
Und nun wird (zu Recht) über grobes Fehlverhalten bei den sogenannten Standardsituationen geklagt. Knapp ein Drittel der 26 Gegentreffer ereilte die Dortmunder Mannschaft, wenn sich der Gegner den Ball in Ruhe zu Frei- oder Eckstoß zurechtlegen konnte – zuletzt in Mönchengladbach fielen gleich drei der vier Gegentore auf diese Weise. „Standards zu verteidigen, ist ein großer Punkt bei uns“, räumte Hummels ein. Und Reus grollte: „Eckbälle kannst du immer verteidigen.“Danach sieht es beim BVB zurzeit allerdings nicht aus.
Wahrscheinlich werden die Experten im Klub zu dem Schluss gelangen, dass die Probleme bei Standardsituationen und im Abwehrverhalten der ganzen Mannschaft ebenso wie gelegentliche Laschheit, aber auch Phasen hinreißenden Fußballs Merkmale eines nicht ausbalancierten Team sind. Vielleicht liegt das daran, dass in Dortmund anders als in München eine Mannschaft nicht über Jahre wachsen kann, sondern immer wieder aufs Neue den Abgang der größten Talente verkraften muss, weil auch die Mehrung der Einnahmen durch Transferüberschüsse zum Geschäftsmodell gehört.
Die Trainerdiskussion werden sie in Dortmund jedenfalls nicht schon wieder eröffnen können. Dagegen verwahrte sich Zorc bereits am Wochenende. Der erst 38 Jahre alte Edin Terzic steht nun vor der Aufgabe, erstens unbedingt und zuverlässig Ergebnisse zu liefern, zweitens die taktischen Grundlagen in die Mannschaft zu treiben und drittens die über Jahre ungestillte Sehnsucht nach dem wuchtigen typisch Dortmunder Fußball der Marke Jürgen Klopp zu befriedigen. Wenn das mal nicht ein bisschen viel auf einmal ist.