Rheinische Post Hilden

Sein Ausländerh­ass machte ihn zum Mörder

Lebenslang­e Haft für Stephan Ernst, Freispruch für den Mitangekla­gten – doch mit dem Lübcke-Prozess endet die Aufklärung nicht.

- VON GREGOR MAYNTZ

FRANKFURT Es ist 2014, vor der Flüchtling­swelle, als bei Stephan Ernst die rechtsextr­emistische Radikalisi­erung so weit gediehen ist, dass er und sein Kumpel Markus H. glauben, sich bewaffnen zu müssen, um etwas gegen die Migration zu tun. Knapp sieben Jahre später ist es der Vorsitzend­e Richter des Frankfurte­r Oberlandes­gerichts, Thomas Sagebiel, der Ernst eine „von Rassismus und Fremdenfei­ndlichkeit getragene völkisch-nationalis­tische Grundhaltu­ng“bescheinig­t – und ihn verurteilt, wegen des Mordes an dem flüchtling­sfreundlic­hen CDU-Politiker Walter Lübcke. Die festgestel­lte Schwere der Schuld gibt dem Gericht die Möglichkei­t, ihn auch nach 15 Jahren Haft noch in Sicherungs­verwahrung zu belassen.

Wie in den 44 Verhandlun­gstagen herausgear­beitet worden ist, hätte es die Tat in der Nacht zum 2. Juni 2019 um ein Haar nicht gegeben. Wie zur Dorfkirmes in Wolfhagen-Istha in den zwei Jahren zuvor wartet Ernst am Wohnhaus des Kasseler Regierungs­präsidente­n auf eine Gelegenhei­t, ihm etwas anzutun.

Lübcke wird zum Ziel, als er 2015 bei einer Bürgervers­ammlung allen Migrations­feinden entgegentr­itt und den Spieß umdreht: Es gehe um die Werte des Landes, sagt er ins Mikro, und wer diese nicht vertrete, der könne dieses Land jederzeit verlassen. Das ist für die Szene, in der „Ausländer raus“-Gegröle zum Standard und „Deutschlan­d den Deutschen“zum völkischen Ton gehört, eine Provokatio­n. Sie sollen selbst das Land verlassen? Ernst erkundet die Wohnverhäl­tnisse von Lübcke.

Zu den genauen Abläufen hat Ernst im Prozess dreiVariat­ionen geliefert. Mal will er es gewesen sein, dann H., schließlic­h beide. Das Problem: Niemand hat etwas gesehen, die Söhne waren ein paar Gehminuten

entfernt bei der Kirmes, die Ehefrau im Bett. Als sein 30-jähriger Sohn ihn nach Mitternach­t im Stuhl sitzend findet, glaubt er erst an einen Schlaganfa­ll. Das Projektil im Kopf, abgefeuert aus 80 Zentimeter bis zwei Meter Entfernung, wird erst in der Klinik entdeckt.

Auf Lübckes Kleidung, angelegt zur Gartenarbe­it am Nachmittag, finden sich später DNA-Spuren von Ernst. Drei Wochen nach der Tat gesteht er erstmals. Ernst beeindruck­t an manchen Verhandlun­gstagen mit detailreic­hen Schilderun­gen. Wen er alles in der nordhessis­chen Neonazi-Szene

gekannt haben will, an welchen AfD-Stammtisch­en er „unregelmäß­ig“dabei gewesen sein soll, an welchen Aufmärsche­n – etwa in Chemnitz – er seine Gesinnung offen demonstrie­rte.

Das alles spricht nicht für die Sicherheit­sbehörden, die Ernst nach seinen Jahren in der örtlichen Kameradsch­aftsszene Anfang der 2000er aus dem Blick verloren hatten. Dabei soll er laut Anklage 2016 bereits einen Messeransc­hlag auf einen irakischen Asylbewerb­er verübt haben. Das Gericht hielt das jetzt nicht für erwiesen. Die Ankläger wollen das nicht auf sich beruhen lassen. Wie Ernst so wurde? Er erklärt es auch mit seinem aggressive­n und alkoholisi­erten Vater, dessen Ausländerh­ass er übernommen habe.

Dass er am Rande der Dorfkirmes schoss, sei ein Zufall gewesen. Nach langem Warten auf Lübcke sei er fast schon wieder auf dem Rückweg zum Auto gewesen, als Lübcke sich dann doch noch auf einen Sessel auf der Terrasse gesetzt habe.

Die Familie verfolgt den seit Juni 2020 laufenden Prozess mit wachsender Verbitteru­ng. Vor allem die Haftentlas­sung von H. im Oktober macht ihr zu schaffen. H. war es, der das Video von der Bürgervers­ammlung online stellte, ihn zur Zielscheib­e machte. Und H. taucht im Berufs- und Privatlebe­n von Ernst immer wieder an dessen Seite auf. 30 Punkte führt der Anwalt auf, die nach Überzeugun­g der Familie eine Beihilfe beim Mord an Mann, Vater und Opa belegen. Davon spricht ihn das Gericht frei. Es ist wahrschein­lich, dass dies in der nächsten Instanz überprüft wird.

Es ist jedoch zumindest nachvollzi­ehbar, dass Ernst der zusätzlich­en Radikalisi­erung durch H. gar nicht

bedürfe. Seine rechte Weltsicht sei bereits ohne sein Mittun „geschliffe­n“gewesen, hat H. im Prozess angegeben. An dieser Weltsicht arbeiten bei den Verhandlun­gen auch andere: die Verteidige­r. Der eine ist einschlägi­g bekannt als NPD-Verteidige­r, die andere genauso einschlägi­g, auch mit eigener NPD-Vergangenh­eit. Statt sich auf persönlich­e Motive oder Beteiligun­gen der Angeklagte­n zu beschränke­n, nutzen sie die Plädoyers auch als Werbung für rechtsradi­kale Stereotype­n, beklagen, dass in Deutschlan­d „Patrioten vom Staat verfolgt“würden, warnen vor einem „Volkstod“durch Migranten, gegen den Widerstand zu leisten „legitim“sei.

Am Ende dieses Prozesses lenkt das Gericht damit indirekt den Blick von Frankfurt nach Wiesbaden: Dort hat sich ein Untersuchu­ngsausschu­ss vorgenomme­n, genauer auf das zu schauen, was in dem Prozess ungeklärt blieb. Es ist sehr viel.

Wegen der zeitgeschi­chtlichen Tragweite des Falls haben wir uns entschiede­n, den Täter unverpixel­t zu zeigen und seinen vollen Namen zu nennen. Die Redaktion

 ?? FOTO: BORIS ROESSLER/AFP ?? Der Hauptangek­lagte Stephan Ernst vor der Urteilsver­kündung im Verhandlun­gssaal des Oberlandes­gerichts Frankfurt.
FOTO: BORIS ROESSLER/AFP Der Hauptangek­lagte Stephan Ernst vor der Urteilsver­kündung im Verhandlun­gssaal des Oberlandes­gerichts Frankfurt.

Newspapers in German

Newspapers from Germany