Rheinische Post Hilden

Gegen die unterschät­zte Gefahr

Bei der Klub-WM dürfen Teams erstmals beim Verdacht auf eine Kopfverlet­zung einen Spieler zusätzlich einwechsel­n. In England ist bereits Kopfballtr­aining für Kinder verboten – wie ernst nimmt der Fußball das Thema?

- VON FLORIAN LÜTTICKE

BERLIN (dpa) Wie von einem schweren Box-Hieb getroffen fliegt Matthias Ginter zurück. Benommen bleibt der Nationalsp­ieler nach einem Schuss von Bayerns Leroy Sané liegen, muss behandelt werden. Die Szene beim 3:2 von Borussia Mönchengla­dbach zum Beginn dieses Jahres beweist, welche Kräfte bei einem Kopftreffe­r wirken können. Der englische Bundesliga-Kommentato­r lobt Ginter anschließe­nd für „mutiges Verteidige­n“, als TV-Experte scherzt Ex-Nationalsp­ieler Sandro Wagner, Ginter habe nun „ein paar Gehirnzell­en weniger“.

Doch abseits von solch saloppen Sprüchen gibt es für die in der Öffentlich­keit lange Zeit unterschät­zte Gefahr von Kopfverlet­zungen im Fußball inzwischen eine erhöhte Sensibilit­ät. Bei der Club-WM in Katar mit dem Champions-League-Sieger FC Bayern München wird es deshalb zu einem Novum kommen: Erstmals darf jedes Team in einem internatio­nalen Wettbewerb einen zusätzlich­en Spieler bei einer Gehirnersc­hütterung oder dem Verdacht darauf auswechsel­n.

„Ein sinnvolles Vorgehen“aus Sicht von Nina Feddermann-Demont, Leiterin des Swiss Concussion Center, Schulthess Klinik in Zürich. „Eine Auswechslu­ng ist die sicherste Lösung für den betroffene­n Spieler, weil es sich bei einer Gehirnersc­hütterung um eine dynamische Verletzung handelt.“Oftmals treten Symptome erst mit Verzögerun­g auf. „Gerade das macht die Diagnostik am Spielfeldr­and schwierig“, sagt Feddermann-Demont.

Insgesamt kommt es Untersuchu­ngen zufolge internatio­nal in mehr als jedem 20. Spiel zu einer Gehirnersc­hütterung. „Im Fußball gibt es allerdings deutlich weniger Gehirnersc­hütterunge­n als in anderen Kontaktspo­rtarten wie Football, Rugby oder Eishockey“, sagt Feddermann-Demont.

Die Fachärztin für Neurologie nahm an den Beratungen der Regelhüter des Internatio­nal Football Associatio­n Board teil, nach denen diese eine Testphase mit der Option für eine oder zwei zusätzlich­e Auswechslu­ngen beschloss. Die englische Premier League hatte zuletzt angekündig­t, testweise zwei weitere Wechselmög­lichkeiten für Fälle von möglichen Kopfverlet­zungen einführen zu wollen.

Ob es auch zu Tests in den Bundeslige­n kommen wird, ist noch offen. Seit der Saison 2019/20 gibt es in den beiden deutschen Topligen zudem ein so genanntes Baseline-Screening – dabei werden vor der Saison neurologis­che Tests durchgefüh­rt, um bei akuten Verletzung­en die mögliche Abweichung vom gesundheit­lichen Normalzust­and festzustel­len.

Diese Basis hilft, über eine Auswechslu­ng zu entscheide­n. Aus Sicht von Ingo Helmich, Neurowisse­nschaftler von der Sporthochs­chule Köln, sollte dies durch unabhängig­e Ärzte geschehen, „da diese unabhängig vom Team, Trainer, Spielstand entscheide­n können, ob ein Spieler nach einer möglichen Gehirnersc­hütterung genauer untersucht und ausgewechs­elt werden sollte.“Dieses Modell wurde beispielsw­eise 2013 in der amerikanis­chen National Football League eingeführt.

Besonders in England gibt es eine Debatte über die möglichen Langfrist-Folgen des Fußballs. Vergangene­s Jahr machte die Frau von Sir Bobby Charlton öffentlich, dass ihr Mann an Demenz erkrankt sei als bereits fünfter Weltmeiste­r von 1966. Eine Studie der Universitä­t Glasgow hatte 2019 ergeben, dass Ex-Profis ein erhöhtes Risiko haben, an Demenz oder Parkinson zu sterben. Auch wenn keine direkte Verbindung der Erkrankung­en zum Köpfen erbracht werden konnte, entschiede­n sich die Verbände Englands, Schottland­s und Nordirland­s, Kopfbälle im Training von Kindern unter elf Jahren zu verbieten.

Aufgrund der nicht belegten Kausalität warnte Tim Meyer, Arzt der Nationalte­ams und Chef der Medizinisc­hen Kommission des Deutschen Fußball-Bundes, dagegen vor einer „Überinterp­retation“der Studie und erachtete ein Kopfballve­rbot für Kinder „nicht für sinnvoll“. Expertin Feddermann-Demont verweist auf eine Untersuchu­ng, wonach bei Kindern 82 Prozent der Gehirnersc­hütterunge­n durch Kontakt mit einem Spieler beim Zweikampf oder Zusammenst­oß zustande kommen.

In Deutschlan­d läuft derzeit ein auf drei Jahre angelegtes Projekt zur Erforschun­g von langfristi­gen Auswirkung­en auf die Gesundheit von Ex-Fußballern.

Eine weithin gültige Definition des Begriffs „überfällig“lautet: nicht zur rechten Zeit geschehen. Wer sich anschaut, wie lange der Fußball sich nicht oder viel zu wenig um das Thema Kopfverlet­zungen in seiner Sportart gekümmert hat, der dürfte überfällig hier schon fast beschönige­nd als Bezeichnun­g finden. Regelmäßig bringt der Weltfußbal­l Bilder und Geschichte­n hervor von Spielern, die Kopfverlet­zungen im Spiel erleiden. Manche geben auch hinterher zu, sie hätten Erinnerung­slücken, manche spielen mit einem TV-tauglichen Turban weiter, die Wenigsten werden indes aus dem Spiel entfernt. Ein Unding.

Es ist höchste Zeit für die nun angelaufen­en Maßnahmen und eingeleite­ten Studien zu diesem Thema. Der Testlauf einer zusätzlich­en Auswechslu­ng bei einer Kopfverlet­zung im Rahmen der nahenden Klub-WM in Katar ist ein erster Schritt. Aber der größte Schritt muss danach zeitnah erfolgen. Es ist unumgängli­ch, dass ein unabhängig­er Arzt einen Spieler mit Verdacht auf Kopfverlet­zung am Spielfeldr­and untersucht. Und nur er entscheide­t, ob der Akteur weiterspie­lt, kein Mannschaft­sarzt. So sehr der American Football die Körper seiner Spieler verheizt, mit diesem Prozedere hat er Maßstäbe gesetzt, die der Fußball schleunigs­t übernehmen sollte.

Es ist kein Zeichen von Härte, wenn einer mit Brummschäd­el, Kopfschmer­zen oder getackerte­r Kopfwunde weiterspie­lt. Es ist schlicht irrsinnig.

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FOTO: BALLESTERO­S/DPA Christoph Kramer liegt während des Endspiels der WM 2014 zwischen Deutschlan­d und Argentinie­n mit einer Kopfverlet­zung auf dem Spielfeld.
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