„Europa hat nicht das Recht zu versagen“
Erstmals stellt sich Ursula von der Leyen ihren Kritikern im EU-Parlament und räumt abermals Fehler bei der Impfstrategie ein.
BRÜSSEL Seitdem die Kritik an der EU-Impfstrategie lauter geworden war, hatte sich EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen rar gemacht. Jetzt ging sie mit einem Auftritt im EU-Parlament in die Offensive. Die 62-Jährige räumte Versäumnisse ein. „Es ist eine Tatsache, dass wir im Kampf gegen das Virus noch nicht da sind, wo wir sein wollen.“Die EU-Kommission, die federführend für alle 27 Mitgliedstaaten die Verhandlungen mit sechs Herstellern geführt hat, sei zu optimistisch gewesen. Das gelte für die Massenproduktion des Impfstoffs genauso wie für die Kontrolle, dass das Bestellte auch geliefert werde.
Wer die Missstände zu verantworten hat, sagte von der Leyen nicht.
Es fiel allerdings auf, dass sie im Plenum mit keinem Wort verteidigend Stella Kyriakides erwähnte – die verantwortliche Gesundheitskommissarin, die in diesen Tagen vor allem von den Boulevardzeitungen in Deutschland persönlich angegriffen wird.
Vehement verteidigte von der Leyen dafür den Ansatz, gemeinsam zu bestellen: Wenn reiche Mitgliedstaaten für sich den Impfstoff „gesichert hätten und die anderen leer ausgegangen wären“, so wäre dies nicht nur wirtschaftlich Unsinn gewesen, sondern hätte das Ende der Gemeinschaft bedeutet. Die Zulassung der Impfstoffe in der EU sei zwar später gekommen als anderswo. Doch diese Zeit sei eine notwendige Investition in Sicherheit und Vertrauen gewesen.
Jetzt will von der Leyen Konsequenzen ziehen aus dem, was nicht gut gelaufen ist: Der für den Binnenmarkt zuständige Industriekommissar Thierry Breton soll mit einer neuen Arbeitsgruppe dafür sorgen, dass die Impfstoffproduktion hochgefahren wird. Von der Leyen sieht die Pharmafirmen in der Verantwortung: „Die Industrie muss Schritt halten mit den bahnbrechenden Schritten der Wissenschaftler.“
Von der Leyen rechtfertigte den Mechanismus zur Kontrolle der Impfstoffexporte aus der EU: Niemand wolle die Unternehmen
behindern, die ihre Verträge gegenüber der EU erfüllten. Aber: „Wir bestehen darauf, dass wir unseren fairen Anteil bekommen.“
In der anschließenden Aussprache wurde deutlich: Von der Leyen kann weiterhin auf das Vertrauen der drei Fraktionen zählen, die ihre Kommission
vor einem Jahr gewählt haben: Christdemokraten, Sozialisten und Liberale sicherten ihr Loyalität zu. Aber die Fraktionschefs erhöhten deutlich den Druck auf die deutsche Kommissionspräsidentin. Der Chef der größten Fraktion, Christdemokrat Manfred Weber, sagte: „Um noch Enttäuschung zu verhindern, muss die Wahrheit gesagt werden.“Dazu gehöre auch das Eingeständnis, dass der Bedarf größer sei als die mittelfristig lieferbaren Impfstoffmengen. Iratxe Garcia von den Sozialisten forderte, die Impfquote müsse deutlich hochgehen. Dacian Ciolos von den Liberalen betonte, der gemeinsame Ansatz sei zwar richtig, bedeute aber keinen Blankoscheck für die Kommission: „Europa hat an dieser Stelle nicht das Recht zu versagen.“