Die gekränkte Welt
Der Virologe Hendrik Streek nennt Corona eine Kränkung der Menschheit – und bezieht sich auf Sigmund Freud. Doch die Reihe menschlicher Zumutungen endet nicht mit den Entdeckungen der Psychoanalyse. Wie gehen wir damit um?
Die lange und wechselhafte Geschichte der Menschheit ähnelt durchaus der Entwicklung, die ihre einzelnen Vertreter im Lauf eines vergleichsweise kurzen Lebens durchmachen: Am Anfang dominiert der kindliche Glaube, im Zentrum allen Geschehens zu stehen. Der Blick auf die Welt trifft auf scheinbare Ordnung, der Optimismus der Jugend ist groß, alles beherrschen zu können. Doch mit der Zeit gehen Gewissheiten verloren. Man wird erwachsen, klüger, zugleich auch ratloser. Enttäuschungen und Ohnmachtsgefühle nagen am Ideal des eigenen Ichs.
Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, hat drei historische Entdeckungen ausgemacht, die als unumstößlich geltende Mehrheitsmeinungen von der eigenen Bedeutung hinweggefegt und dadurch Kränkungen der Menschheit ausgelöst haben: die Entdeckung, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums ist (kosmologische Kränkung), dass der Homo sapiens ein Verwandter des Affen ist (biologische Kränkung) und dass der vernunftbegabte Mensch in beträchtlichem Maße Gefangener unterbewusster Triebe ist (psychologische Kränkung). Das hat religiöse, staatliche und gesellschaftliche Weltbilder erschüttert.
Nun will der Bonner Virologe Hendrik Streeck auf eine weitere Kränkung in Menschheitsdimension gestoßen sein. „Gerade kränkt uns, dass wir als technologisierte Gesellschaft nicht Herr über dieses kleine Virus werden“, philosophierte Streek, wobei er sich ausdrücklich auf Freud bezog. Stattdessen hangele man sich von Verordnung zu Verordnung. Streek gab der jüngsten Variante keinen Namen. Nennen wir sie einfach „virologische Kränkung“.
Kränkungen schmerzen, gehen sie doch mit einer Verletzung des Selbstwertgefühls einher. Machtlosigkeit, Bedeutungslosigkeit, Desillusionierung bohren sich wie Pfeile ins Ego. Eigenliebe wohnt jedem inne, ohne dass er gleich zum Narzissten wird. Sie ist überlebenswichtig. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, lautet nicht umsonst eine 2000 Jahre alte Ultima Ratio. Aber auch Herabsetzungen des geliebten Clans, des eigenen Landes und der Spezies können schmerzen.
Auf einem auserwählten Himmelskörper zu leben, um den sich alles dreht, war eine erhabene Vorstellung. Zudem verlieh sie jenen, die sich sowas ausgedacht hatten, Macht. Zweifel an der Deutungshoheit konnten tödlich enden. Nikolaus Kopernikus (1473–1543) aber stürzt diese Vorstellung am Ende doch. Heute weiß die Menschheit mehr über ihre Winzigkeit: Es gibt allein in unserer Galaxie, der Milchstraße, vermutlich 300 Milliarden Sonnen. Die Milchstraße ist nur eine von schätzungsweise 100 Milliarden Galaxien im Weltall. Und ist Letzteres wirklich das einzige?
Tatsächlich ist auch der nächste Schlag, den der britische Naturforscher Charles Darwin der Idee versetzt, der Mensch sei die Krone der Schöpfung, von kopernikanischem Kaliber. 1859 erscheint Darwins bahnbrechendes Werk „Über die Entstehung der Arten“, das den Homo sapiens mehr oder weniger als intelligentes Tier erscheinen lässt. Bis heute wird leidenschaftlich darüber gestritten, ob wir Nachfahren von Adam oder Affe sind.
Es zeugt von Selbstbewusstsein, sich als Dritten in die Riege der Verursacher einer historischen Kränkung einzureihen, zumal es sich um eine selbst gebastelte Theorie handelt. Aber Sigmund Freud gehört unbestritten zu den bedeutendsten Wissenschaftlern des 20. Jahrhunderts. Und seine Erkenntnis, dass Obsessionen die hochgelobte Vernunft oft besiegen und wir nicht wirklich Herr im Hause unseres Ichs sind, war eine weitere peinliche Einsicht, der wir uns ernsthaft stellen müssen.
Nun also Corona. Das Virus hat den größten kollektiven Kontrollverlust hervorgerufen, dessen sich die Mehrheit der Menschheit erinnern kann, und seine hakenschlagenden Fluchtmutationen lassen nichts Gutes erahnen. Doch handelt es sich in Wahrheit nur um eine aus einer ganzen Reihe weiterer Kränkungen, die die Welt seit Freud erfahren musste. Es folgte die genetische (wir sind ein Produkt unserer Erbanlagen), die ökologische (der Mensch beeinflusst die Biosphäre, ist aber nicht in der Lage, ihre komplexen Zusammenhänge zu verstehen, geschweige denn zu kontrollieren), die technologische Kränkung
(Maschinen und künstliche Intelligenz könnten ihre menschlichen Schöpfer überflügeln, gar beherrschen) oder die digitale (das Internet schuf keine grenzenlose Freiheit, sondern bedroht sie auch massiv).
Nun gibt es zwei Möglichkeiten, mit Kränkungen umzugehen. Eine weit verbreitete ist, beleidigt zu sein. Wer sich umschaut, entdeckt, dass sich die Gesellschaft gerade in eine Vielzahl unterschiedlichster Gruppen und Grüppchen fragmentiert, die jeweils ein mächtiges Gefühl zusammenschweißt: marginalisiert zu werden. Den Beleidigten unter ihnen – und das sind jede Menge – geht es oft gar nicht darum, diesen Zustand zu überwinden, vielmehr darum, aus einem Opferstatus Kapital zu schlagen, Aufmerksamkeit zum Beispiel und die Ausübung von Druck.
Die zweite Möglichkeit im Umgang mit Kränkungen ist das genaue Gegenteil: Wer Stolz und Hybris beiseiteschiebt, auf den Boden der Tatsachen zurückkehrt und die Lage nüchtern analysiert, vermag Konsequenzen zu ziehen, die nach vorne weisen. Jammern hilft nicht. Selbsterkenntnis bleibt der erste Schritt, um das Notwendige zu tun: Corona weiter mit allen Mitteln zu bekämpfen (wer hätte denn vor einem Jahr an eine derart rasche Entwicklung von Impfstoffen geglaubt?), sorgsamer mit Mutter Erde umzugehen, Medizin und Technik im Rahmen starker ethischer Grundsätze voranzutreiben.
Mit ihrer größten Kränkung gehen Menschen schließlich seit zig Jahrtausenden um: sterblich zu sein. Unsere Existenz ist endlich. Und doch hat der Versuch einer Versöhnung mit dem Tod Großes hervorgebracht: Kunst, Kultur, Glaube, Spiritualität. Und nicht zuletzt – Demut.