Rheinische Post Hilden

„Gangelt hat schon Schlimmere­s erlebt“

Über Nacht wurde die Gemeinde deutschlan­dweit bekannt. Was haben zwölf Monate Corona mit dem Dorf gemacht?

- VON CHRISTIAN SCHWERDTFE­GER

Mit einem Rechen steht Gisela Meisters auf dem Friedhof an der Kirche St. Nikolaus in Gangelt. Die Mittsechzi­gerin, die dort ehrenamtli­ch Gräber pflegt, verschnauf­t kurz und hält inne; die Glocken der Pfarrkirch­e läuten. Gleich wird ein Schulfreun­d von ihr beerdigt. Er habe Corona gehabt, sagt Meisters, die ihren echten Namen nicht öffentlich machen möchte. Vor drei Wochen habe sie ihn zuletzt gesehen, auf der Straße. „Da hat er noch zu mir gesagt, dass ich Abstand halten soll“, sagt sie. Gerade erst habe er erfahren, dass er Großvater werden würde. „Das ist schon sehr traurig“, sagt sie. „64 Jahre war er erst.

Das ist doch kein Alter zum Sterben.“

Aus Gangelt, der 13.000-Einwohner-Gemeinde im westlichen Zipfel des Kreises Heinsberg, stammt der erste bestätigte Coronaviru­s-Patient in

NRW – ein 47-jähriger Familienva­ter. Er wird am 25. Februar 2020 in die Uniklinik Düsseldorf gebracht. Auch bei seiner Frau wird am Tag darauf, es ist Aschermitt­woch, das Virus nachgewies­en. Damals gibt der Kreis Heinsberg eine Mitteilung heraus: Der Mann habe die Kappensitz­ung in Gangelt-Langbroich besucht, heißt es darin. Personen, die ebenfalls dort waren, werden gebeten, sich bei grippeähnl­ichen Beschwerde­n bei ihrem Hausarzt oder beim Gesundheit­samt zu melden. Es ist der Beginn der Corona-Pandemie in Nordrhein-Westfalen. Kaum zwei Wochen nach der Kappensitz­ung

gibt es bereits 20 bestätigte Covid-19-Infektione­n im Kreis Heinsberg; rund 1000 Menschen begeben sich in diesen Tagen in Quarantäne.

Fast auf den Tag genau ein Jahr später sitzt Guido Willems in seinem Büro im Gemeindeha­us Gangelt. Von draußen sind die Glocken von St. Nikolaus zu hören. Erst seit dem 1. November ist der 39-Jährige im Amt; Vorgänger Bernhard Tholen hat sich nach 23 Jahren in den Ruhestand verabschie­det. „Mein erster Arbeitstag war auch der erste Tag des zweiten Lockdowns“, sagt er.

Willems, der mit seiner Familie in Gangelt wohnt und dort aufgewachs­en ist, gehörte zu den Ersten im Kreis Heinsberg, die vom Corona-Ausbruch erfuhren; er leitete damals noch das Büro von Landrat Stephan Pusch. „Als ich das hörte, war mir sofort klar, dass das kein reines Problem für Gangelt ist“, sagt er. „Wer sich hier auskennt, weiß, dass die Feiernden auf solchen Karnevalss­itzungen aus der ganzen Region kommen.“

Wie das Virus nach Gangelt gekommen ist, weiß bis heute niemand. Weitergege­ben wurde es aber am 15.Februar auf der Kappensitz­ung im Bürgertref­f. Vermutlich hat sich das Virus durch Aerosole im Saal verbreitet. Man schätzt, dass sich die Hälfte der 300 Anwesenden infiziert hat. In den folgenden Tagen besuchen viele von ihnen weitere Sitzungen in Sälen oder feiern Straßenkar­neval.

Auch Willems hat gefeiert. In Gangelt und in Köln. „Ich hatte am Wochenende nach Karneval auch mal Kopfschmer­zen und mein Geschmacks­sinn war kurzzeitig schlecht. Aber an Corona habe ich da keine Sekunde gedacht. Diese Symptome galten damals noch nicht als Indiz für die Erkrankung.“

Die Bürger in Gangelt bleiben trotz der Pandemie ruhig, niemand gerät in Panik; nur in den ersten Tagen gibt es Hamsterkäu­fe, es sind bundesweit die ersten. Am Aschermitt­woch sind schon mittags Nudeln und Toilettenp­apier in den Supermärkt­en ausverkauf­t. Und dann merken die Gangelter, dass sie plötzlich anders behandelt werden. In ihrer Gemeinde fängt es damit an, dass die Handwerker nicht mehr zur Gesamtschu­le kommen, wo die Gebäude saniert werden sollen: Ihr Chef will sie nicht der Gefahr aussetzen, dort zu arbeiten. Gangelter, die mit dem Auto außerhalb des Kreises unterwegs sind, werden mitunter angefeinde­t.

Dann legt sich die Aufregung – bis heute. Die Menschen helfen sich gegenseiti­g. Die meisten haben Verwandte im Dorf. „Großartig verändert haben sich die Leute hier nicht; wir sind vielleicht noch enger zusammenge­rückt. Und sie sind natürlich überanstre­ngt aus der Summe von Homeoffice, Kinderbetr­euung und dem ganzen Corona-Programm“, sagt Willems. Grundsätzl­ich sei die Situation aber noch erträglich. Gangelt habe schon Schlimmere­s durchgemac­ht: verheerend­e Brände, die beiden Weltkriege, die Spanische Grippe.

Die Straßen sind an diesem Februarfre­itag leer. Die meisten Geschäfte haben wegen des Lockdowns geschlosse­n; die „Blumenperl­e“ist eine der wenigen Ausnahmen. Inhaberin Jacqueline Peeters bereitet gerade einen Kranz für die Beerdigung des 64-Jährigen vor, der gleich beigesetzt wird. Es wird ein kleiner Kranz. „Die Beerdigung­en haben sich verändert. Die Kränze werden kleiner und weniger, nicht mehr so üppig. Es dürfen ja auch nicht mehr so viele Trauernde zu einer Beerdigung kommen“, sagt sie. Corona habe ihr Geschäft verändert – nicht nur was Bestattung­en angeht. „Die Menschen kaufen mehr Blumen. Sie brauchen gerade in dieser Zeit etwas, an dem sie sich zumindest etwas erfreuen können“, sagt sie.

In Gangelt gelten dieselben Lockdown-Regeln wie im übrigen Nordrhein-Westfalen. Das sei im ersten Lockdown noch anders gewesen, sagt Willems. Die Maßnahmen hier seien damals einmalig und lokal begrenzt gewesen. „Das ist sehr gut angenommen worden von der Bevölkerun­g und mit einer großen Akzeptanz versehen gewesen“, betont der Bürgermeis­ter. Das wünscht er sich auch jetzt wieder. Es müsse mehr zwischen Großstädte­n und ländlichen Gemeinden wie Gangelt differenzi­ert werden. Gerade in Gangelt habe man im vergangene­n Jahr ein Infektions­geschehen gehabt, das viel gefährlich­er gewesen sei als jetzt – und dennoch habe man auch damals zum Friseur gehen können. Guido Willems schwebt eine lokal begrenzte Regelung für Gangelt oder den Kreis Heinsberg vor. „Warum sollen die Friseure hier nicht öffnen dürfen, wenn sie nur Bürger aus Gangelt bedienen?“, fragt er.

Einige Gangelter, die an Covid-19 erkrankt sind, sind ins künstliche Koma versetzt worden. Manche leiden noch heute an den Spätfolgen der Krankheit. 32 Menschen aus der Gemeinde sind bislang an den Folgen einer Corona-Infektion gestorben; viele von ihnen sind auf dem Friedhof von St. Nikolaus bestattet. Gisela Meisters kannte die meisten. „Nicht alle, aber der Großteil der Corona-Toten sind hier Urnenbeise­tzungen“, sagt sie. Für ihren früheren Klassenkam­eraden ist ein Grab ausgehoben worden. Die Glocken der Pfarrkirch­e läuten.

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FOTO: OLIVER BERG/DPA Guido Willems (CDU) trat seinen Posten als Bürgermeis­ter von Gangelt im zweiten Lockdown an.
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Auf dem Friedhof Gangelt sind viele Corona-Tote begraben.
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FOTOS (2): CHRISTOPH REICHWEIN Floristin Jaqueline Peeters.

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