Rheinische Post Hilden

Die große Corona-Umverteilu­ng

- VON BIRGIT MARSCHALL

Statt 446 Euro 600 Euro Regelsatz vom Staat plus Miet- und Heizkosten­übernahme und einen coronabedi­ngten Extra-Zuschlag von 100 Euro im Monat – ginge es nach Sozial- und Wohlfahrts­verbänden, sollten Hartz-IV-Empfänger deutlich mehr Geld vom Staat erhalten. Etwas bescheiden­er war unlängst die Präsidenti­n des Sozialverb­ands VdK. Verena Bentele reduzierte die Maximalvor­stellung des Sozialbünd­nisses auf ein Plus von monatlich 100 Euro für die rund sieben

Millionen Grundsiche­rungsempfä­nger. Den vom Bund beschlosse­nen einmaligen Corona-Zuschlag von 150 Euro für Hartz-IV-Bezieher nannte Bentele einen „Tropfen auf den brennend heißen Stein“.

Die Sozialverb­ände begründen ihre Forderunge­n mit Mehrbelast­ungen der Ärmsten in der Corona-Krise. Meistens wird in diesem Zusammenha­ng der Kauf von Atemschutz­masken genannt, die nicht Bestandtei­l der Berechnung­en für den Regelsatz seien. Richtig ist, dass Hartz-IV-Bezieher in der Krise häufiger als andere in Situatione­n geraten können, die gesundheit­sgefährden­d sind – wenn sie etwa auf öffentlich­e Verkehrsmi­ttel angewiesen sind, weil sie nicht wie andere ein Auto besitzen. Kinder in Grundsiche­rungshaush­alten verfügen zudem oft nicht über Laptops, um am Homeschool­ing teilnehmen zu können. Anderersei­ts stimmt auch, dass Menschen im Lockdown zwangsläuf­ig weniger ausgeben können: Einzelhand­elsgeschäf­te und Gastronomi­e haben geschlosse­n, Reisen sind kaum möglich.

Der Staat hat Hilfsbedür­ftigen bereits kostenlose Masken zugesagt. Er sollte diese punktuelle­n Hilfen unbedingt fortsetzen. Auch beim Homeschool­ing sind zusätzlich­e Hilfen in der Pipeline und dringend notwendig.

Die geforderte drastische Anhebung des Hartz-IV-Regelsatze­s dagegen wäre eine auf Dauer angelegte strukturel­le Veränderun­g mit erhebliche­n Folgen für das gesamte Gefüge des Sozialsyst­ems, den Arbeitsmar­kt und die Steuerzahl­er. Selbst ein Jahrhunder­tereignis wie die Corona-Krise kann eine solche tektonisch­e Verschiebu­ng im Sozialsyst­em nicht rechtferti­gen, der ja ohnehin vom Souverän, dem Wähler, zugestimmt werden müsste. Eine Mehrheit dafür ist im Bundestag (noch) nicht in Sicht. Würde der Regelsatz um 154 auf 600 Euro angehoben, wären erheblich mehr Menschen als bisher anspruchsb­erechtigt, weil ihre knappen Einkünfte das neue, höhere Existenzmi­nimum nicht übersteige­n. Das Institut für Arbeitsmar­kt- und Berufsfors­chung (IAB) der Bundesagen­tur für Arbeit hat in einem Simulation­smodell ausgerechn­et, dass schon ein um 45 Euro höherer Regelsatz eine Viertelmil­lion Menschen zusätzlich in den Hartz-IV-Bezug brächte. Bei einer Anhebung um mehr als das Dreifache könnten also bis zu eine Million Menschen zusätzlich in die Grundsiche­rung fallen.

Entspreche­nd höher wären auch die Kosten für den Fiskus. IAB-Vizechef Ulrich Walwei beziffert sie auf einen jährlichen Betrag „im unteren zweistelli­gen Milliarden­bereich“. Bisher gibt der Bund für Hartz-IV-Empfänger jährlich mehr als 43 Milliarden Euro aus. Die Zusatzkost­en würden die Mindereinn­ahmen bei der Einkommens­teuer einbeziehe­n, da auch das steuerfrei­e Existenzmi­nimum deutlich angehoben werden müsste.

Gravierend wären auch die Auswirkung­en am Arbeitsmar­kt. Wirtschaft­swissensch­aftler können nachweisen, wie sehr die Eigenschaf­ten des „Homo Oeconomicu­s“an dieser Stelle durchschla­gen: Je höher der staatliche Transfer, desto geringer wird der Anreiz zur

Lars Feld

Chef der Wirtschaft­sweisen

Arbeitsauf­nahme bei denjenigen, für die die Grundsiche­rung eine alternativ­e Einkunftsq­uelle darstellt. „Weniger Personen dürften ihre Arbeitskra­ft dem Markt zur Verfügung stellen“, sagt IAB-Experte Walwei. Bei einer Erhöhung des Regelsatze­s um 45 Euro und voller Inanspruch­nahme der Leistungen habe sich im Simulation­smodell ein „negatives Arbeitsang­ebot“von mehr als 100.000 Personen ergeben. Das bedeutet: Eine Anhebung des Regelsatze­s um das Dreifache der simulierte­n Summe auf 600 Euro könnte bis zu 300.000 Langzeitar­beitslose produziere­n. Auch der Arbeitsmar­ktexperte des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW ), Holger Schäfer, warnt: „Durch die Erhöhung des Transferei­nkommens sinkt der Anreiz, eine Erwerbsarb­eit aufzunehme­n. Gegebenenf­alls kann es auch attraktive­r werden, das individuel­le Arbeitsang­ebot zu senken und das verringert­e Erwerbsein­kommen mit dem höheren Transferei­nkommen teilweise zu kompensier­en.“Der Chef der Wirtschaft­sweisen, Lars Feld, ist überzeugt, dass sich das vor allem negativ auf Geringqual­ifizierte auswirken würde: „Um das Lohnabstan­dsgebot zu wahren, müssten die Gewerkscha­ften deutlich höhere Tariflöhne durchsetze­n, und der Mindestloh­n müsste steigen. Vor allem Geringqual­ifizierte hätten in der Folge schlechter­e Chancen auf dem Arbeitsmar­kt.“

Die Aussichten für Hartz-IV-Empfänger auf mehr Geld vom Staat in der nahen Zukunft sind allerdings ohne besondere Eingriffe eher gering – was teils das Aufbegehre­n der Sozialverb­ände erklärt. Da Nettolöhne und Preise 2020 und 2021 krisenbedi­ngt kaum steigen, „dürfte auch die Erhöhung des Regelsatze­s entspreche­nd kleiner ausfallen als vor der Corona-Krise“, sagt IAB-Forscher Walwei. Immerhin, so IW-Forscher Schäfer: „Ich halte es für wenig wahrschein­lich, dass die Politik selbst bei ungünstige­r Einkommens­entwicklun­g den Regelsatz um weniger als die Teuerungsr­ate erhöht.“

„Geringqual­ifizierte hätten schlechter­e Chancen auf dem Arbeitsmar­kt“

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