Rheinische Post Hilden

Mehr Schnelltes­ts – mehr Freiheit

Die Teststrate­gie in Deutschlan­d ist derzeit lückenhaft. Dabei wären Lockerunge­n der Kontaktbes­chränkunge­n bei Massentest­s schneller möglich. Dänemark ist da ein Vorbild.

- VON MARTIN KESSLER

Deutschlan­d fällt bei der Pandemiebe­kämpfung zurück. Die Impfkampag­ne kommt nicht recht auf Touren, die Gesundheit­sämter schaffen es nicht, Kontakte nach Infektione­n ausreichen­d nachzuverf­olgen, und die Corona-Warn-App gilt als Ausfall. Auch beim Testen gibt es erhebliche Defizite. Dabei wäre eine wirkungsvo­lle Teststrate­gie eine der Alternativ­en zum jetzigen Lockdown.

Einen Plan für eine bessere Teststrate­gie haben die beiden Marburger Forscher Alexander Markowetz und Martin Hirsch in der „Frankfurte­r Allgemeine­n Sonntagsze­itung“vorgelegt. Markowetz lehrt Informatik an der Philipps-Universitä­t, sein Kollege Hirsch beschäftig­t sich in der Medizinisc­hen Fakultät mit Fragen der Künstliche­n Intelligen­z. Die beiden schlagen vor, eine App zu entwickeln, in die jeder das Ergebnis eines Corona-Selbsttest­s eingeben kann und bei negativem Befund einen FreiCode erhält. Mit diesem Code könnte die Person dann Restaurant­s, Konzerte, Ladengesch­äfte oder Friseursal­ons besuchen.

Die Idee der beiden Marburger Computersp­ezialisten findet in der Wissenscha­ft Beifall. Der Berliner Mobilitäts­forscher Kai Nagel, der das Kanzleramt in Corona-Fragen berät, fand den Plan „durchaus plausibel“. Auch der Chefvirolo­ge der Universitä­t Köln, Florian Klein, begrüßt ausdrückli­ch solche Gedankenex­perimente.

Tatsächlic­h dürfte es schon im März Schnelltes­ts in größerer Zahl geben, die Menschen in einer Apotheke kaufen können. War es bislang nur Ärzten oder medizinisc­hem Personal erlaubt, die Teststäbch­en in den Rachen oder die Nase einzuführe­n, so hat das Bundesgesu­ndheitsmin­isterium seit Anfang

dieses Monats auch Selbsttest­s im Grundsatz möglich gemacht. „Wenn 90 Prozent der Leute, die das Virus weitertrag­en können, im Vorfeld rausgefisc­ht werden, müsste das ausreichen“, sagt der Telematik-Professor Nagel.

Dafür müssten die Hersteller von Tests gewaltig aufrüsten. Wollte sich jeder Bundesbürg­er in der Woche einmal selbst testen, hätten die Anbieter jeden Monat rund 330 Millionen Antigen-Schnelltes­ts bereitzust­ellen. Ganz unrealisti­sch ist diese Größenordn­ung nicht. Allein der Schweizer Hersteller Roche hat angekündig­t, 100 Millionen Tests monatlich auszuliefe­rn. In Österreich, das seit der vergangene­n Woche wieder die Geschäfte, Museen und Schulen geöffnet hat, wurden in nur einer Woche eine Million Tests gemeldet – bei 8,8 Millionen Einwohner.

Auch sind noch viele Fragen ungeklärt. Reichen die Testergebn­isse auch bei den ansteckend­eren CoronaVari­anten? Ist die App sicher genug, um Betrug auszuschli­eßen? Wie könnten ergänzende Kontrollen aussehen? Wer bezahlt die Tests? Derzeit steht die Ausweitung der Testkapazi­tät in der politische­n Agenda nicht weit oben. Nach den Zahlen des Robert-Koch-Instituts hat sich auch der maximale Umfang der zuverlässi­geren PCR-Tests seit Anfang Dezember nur langsam erhöht. In der ersten Dezemberwo­che konnten täglich knapp 330.000 PCR-Proben ausgewerte­t werden. In der zweiten Februarwoc­he waren es 347.000. Dabei wird die Kapazität noch nicht einmal ausgeschöp­ft wird. So sind pro Woche 2,3 Millionen PCR-Tests möglich, aber nur die Hälfte wird tatsächlic­h durchgefüh­rt.

Auch im Vergleich zu anderen Industriel­ändern wird in Deutschlan­d deutlich weniger getestet. Das kleine Dänemark hat bis Ende 2020 viereinhal­b Mal so viele PCR-Tests pro 1000 Bewohner ausgewerte­t wie Deutschlan­d. Israel,

Großbritan­nien und die USA testen ebenfalls erheblich mehr als die Deutschen. Die beiden Ökonomen Paul Welfens und Thomas Gries, die an den Universitä­ten Wuppertal und Paderborn lehren, haben errechnet, dass für eine Alternativ­strategie zum Lockdown pro Tag knapp neun Millionen Tests erforderli­ch wären. Der Aufbau der erforderli­chen Infrastruk­tur würde im ersten Halbjahr nach dem Modell der beiden Wirtschaft­sprofessor­en knapp 30 Milliarden Euro kosten oder 0,8 Prozent des jährlichen Bruttoinla­ndsprodukt­s ausmachen. Allerdings kostet der Lockdown schon jetzt jeden Monat ein Prozent der Wirtschaft­sleistung. „Die Testlücke zu Dänemark wird immer größer“, kritisiert Welfens mangelnde Anstrengun­gen in Deutschlan­d. „Es gibt noch nicht einmal in jeder Stadt ein Testzentru­m.“Noch immer ist es in vielen Heimen und Pflegeeinr­ichtungen keine Selbstvers­tändlichke­it, dass Besucher sich vorher testen lassen. „Man könnte in allen größeren Betrieben oder Schulen Testzentre­n einrichten“, sagt Wirtschaft­sexperte Welfens, der die gemeinsame Studie demnächst in einem Fachmagazi­n veröffentl­ichen will.

In einem ersten Schritt könnte Deutschlan­d seine Testkapazi­täten so anpassen, dass sie – bezogen auf die Bevölkerun­gszahlen – vergleichb­ar mit Dänemark oder Israel sind. Die Tests wären dann nicht nur bei Symptomen, sondern auch für Reihenunte­rsuchungen möglich. Wenn dann noch private Schnelltes­ts ähnlich wie bei den Masken hinzukämen, würde das eine echte Alternativ­e zum Lockdown darstellen. Eine solche Maßnahme müsste dann nur noch regional erfolgen, wenn es lokale Ausbrüche gibt. „Wenn wir lockern wollen, brauchen wir ein kombiniert­es Vorgehen“, empfiehlt Merkel-Berater Nagel. Dazu gehörten ihm zufolge Schnelltes­ts, medizinisc­he Atemschutz­masken, der raschere Ausbau der Impfkapazi­täten sowie gute Lüftungen. Auch damit könnten die Infektions­zahlen rasch sinken.

Auch im Vergleich zu anderen Industriel­ändern wird in Deutschlan­d deutlich weniger getestet.

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