Rheinische Post Hilden

Kinder und Corona

- VON WOLFRAM GOERTZ

BERLIN Unser System ächzt derzeit an allen Ecken und Enden, doch wäre vielen geholfen, wenn es in zentralen Punkten Planungssi­cherheit gäbe. Sind Geimpfte doch ansteckend? Warum erkranken in jüngster Zeit weltweit mehr jüngere Leute? Und noch dringliche­r: Sind Kinder Treiber der Pandemie?

Die Datenlage ist unbefriedi­gend, doch gibt es Tendenzen. Michael Wagner, Mikrobiolo­ge an der Universitä­t Wien, hält Kinder nach einer eigenen Studie zur Dunkelziff­er für „ähnlich infektiös“wie Erwachsene. In Schulen finde „ein relevantes Infektions­geschehen“statt, und „dieses wird auch aus den Schulen in die Familien getragen“.

Dagegen argumentie­rt Matthias Keller vom Vorstand der Süddeutsch­en Gesellscha­ft für Kinder- und Jugendmedi­zin: Es sei zwar richtig gewesen, Schulen und Kindergärt­en als initiale Maßnahme zu schließen, um Erfahrunge­n mit dem Coronaviru­s zu sammeln. Jetzt aber gebe es neue Erkenntnis­se, die geschlosse­ne Kitas und Grundschul­en nicht mehr rechtferti­gten. Wörtlich sagte er: „Es gibt keine Erkenntnis­se, dass Kinder bei Covid-19 zur Krankheits­last oder Sterblichk­eit beitragen würden.“

Kinder unter zehn Jahren seien, so Keller, nach aktuellen Daten selten infiziert, und neueste Erkenntnis­se zögen in Zweifel, dass Kinder überhaupt „Virenschle­udern“für das Coronaviru­s seien. Eine Datenerheb­ung an bundesweit mehr als 100 Kinderklin­iken habe ergeben, dass von 116.000 Kindern und Jugendlich­en nur 0,53 Prozent positiv getestet wurden. „Die Hauptquell­e der Infektion bei Kindern und Jugendlich­en ist außerhalb der Schule“, sagte Keller. Dagegen verwies bereits im Frühjahr 2020 der Berliner Virologe Christian Drosten auf eine Studie aus Chicago, derzufolge ausgerechn­et die Jüngsten (bis fünf Jahre) zehn- bis 100-mal mehr Viren im Rachen hatten als ältere Testperson­en.

Wem kann man da noch glauben? Dass auch symptomfre­ie Kinder ansteckend sein können, lässt eine Studie aus Salt Lake County vermuten: Zwölf infizierte Kinder hatten dort mindestens ein Viertel ihrer Kontakte außerhalb der Kita angesteckt. Eine Nachverfol­gung der Uniklinik in Warschau zeigte, dass acht Krippenkin­der das Virus auf drei Geschwiste­r und neun Eltern- und Großeltern­teile übertragen hatten.

Auch Studien aus 101 Haushalten in Nashville (Tennessee) und in Marshfield (Wisconsin) kamen zu dem Ergebnis, dass bei vielen Familien die Kinder das Virus eingeschle­ppt hatten. Und der Präsident des Verbands der Mikrobiolo­gen und Infektiolo­gen im kanadische­n Québec sagte: „Die Schulen waren entscheide­nd daran beteiligt, die zweite Welle in Québec auszulösen.“Gilt das auch für Deutschlan­d? Nun, hier waren Berufe in der Betreuung und Erziehung von Kindern von März bis Oktober 2020 am stärksten von Krankschre­ibungen im Zusammenha­ng mit Covid-19 betroffen, zeigt eine Analyse der Arbeitsunf­ähigkeitsd­aten der AOK-Mitglieder durch deren Wissenscha­ftliches Institut.

In der Münchner „Virenwächt­er-Studie“wurde untersucht, wie stark sich das Coronaviru­s unter Kindern in einem Alter von einem bis elf Jahren und deren Betreuern und Lehrern verbreitet­e. Zwischen Juni und November 2020 wurde in Grundschul­en, Kitas und Kindergärt­en getestet. Nur zwei von 2149 PCR-Tests von Kindern fielen positiv aus, heißt es in der Studie. Beim Personal konnte nur ein positives Testergebn­is festgestel­lt werden.

Eine wichtige Einschränk­ung im Fazit der Wissenscha­ftler: „Kinder, die die jeweiligen Einrichtun­gen besuchen, tragen nicht signifikan­t zur Ausbreitun­g der Pandemie bei, wenn geeignete Maßnahmen zum Infektions­schutz getroffen werden.“Der Zusatz ist entscheide­nd: Während des zwölfwöchi­gen Untersuchu­ngszeitrau­ms herrschten in den getesteten Einrichtun­gen erhöhte Hygienevor­schriften, in Schulen etwa zusätzlich eine Maskenpfli­cht für Schüler oder getrennte Gruppen in Kindergärt­en.

Ende Dezember hat die europäisch­e Seuchenbeh­örde ECDC den Wissenssta­nd zusammenge­fasst – und Erfahrunge­n aus 17 Ländern berücksich­tigt. Das Ergebnis: Schulschli­eßungen können die Verbreitun­g von Sars-CoV-2 vermindern. Doch seien die Schulöffnu­ngen im August „keine treibende Kraft“für den Anstieg der Neuinfekti­onen in vielen EU-Ländern gewesen.

In dieser Gemengelag­e aus variabel interpreti­erbaren Daten sind Entscheidu­ngen schwer. Um Hygieneund Maskenrege­ln wird man aber bei Schulöffnu­ngen wohl nicht herumkomme­n.

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FOTO: CTK PHOTO/VIT CERNY/DPA Ein Junge im Vorschulal­ter bei einem Corona-Test.

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