Rheinische Post Hilden

Wir sind nicht allein

- VON LOTHAR SCHRÖDER

Ich bleibe. Und wenn ich bekenne, weiterhin Mitglied der katholisch­en Kirche sein zu wollen, klingt das mittlerwei­le fast nach einer exotischen Haltung. Denn Kirchenaus­tritte scheinen in Mode gekommen zu sein. Bei manchen Amtsgerich­ten in NRW sollen bis Ende April keine Austrittst­ermine mehr zu haben sein.

Der Entschluss, der Kirche den Rücken zu kehren, klingt nach aufgeklärt-kritischem Geist, nach Protest und Abstrafung. Und darum werden schon Austrittsv­orhaben manchmal sehr öffentlich angekündig­t. Manchmal klingt es geradezu wie eine heroische Tat. Selbst für ältere Menschen ist der Kirchenaus­tritt nach einem langen, engagierte­n Gemeindele­ben keine Häresie mehr. Für mich ist die Abkehr nie eine Option gewesen. Weil Glaube meinem Leben hilft und mir wichtige Leitplanke­n schenkt. Und weil Kirche zu meinem Glaubensve­rständnis dazugehört. Unterm Strich empfinde ich mich als eine katholisch­e Existenz.

Dabei stamme ich nicht aus einer streng katholisch­en, eher fröhlich katholisch­en Familie mit dem Hang zur religiösen Unverbindl­ichkeit. Messdiener bin ich geworden wie derzeit viele. Wenn ich damals in der neogotisch­en Kirche von St. Peter in Duisburg nach den Gottesdien­sten werktags Kerze um Kerze löschen musste, habe ich mich immer gefürchtet – und mich gesputet, aus der Finsternis in die Sakristei zu kommen. Ich habe die Sommer-Freizeiten der Pfarre genossen und nach der Schule viele Stunden in jenen kahlen Gemeinderä­umen zugebracht, die unter dem kruden Namen „Jugendzent­rum“firmierten. Dass ich als Kind jeden Sonntag die Heilige Messe besuchte – selbst wenn ich nicht diente –, hatte unter anderem mit dem Schwager meiner Oma zu tun, der Küster der Gemeinde

war und mich vom Altarraum aus fest im Blick hatte. Meine Kirchgänge dürften also mehr der familiären Gesichtswa­hrung geschuldet gewesen sein. Die Oma selbst war sehr gottesfürc­htig und eilte bei jedem Gewitter in den Keller, um bei Kerzensche­in die Mutter Gottes anzurufen, während wir oben gelassen auf das Ende des ungemütlic­hen Wetters warteten. Eine Schwester meiner Oma (die das Motorradfa­hren liebte) wurde Ordensfrau, ein Bruder wollte Priester werden und wirkte schließlic­h als feinsinnig­er Grundschul­direktor.

Kirchen-Erlebnisse prägten meine Kindheit. Verklären aber können solche Rückblicke heute nichts mehr. Denn zu desillusio­nierend ist Vieles, was ich als Katholik und als Journalist erlebe. Es scheint, als hätte es in den zurücklieg­enden Jahren kein anderes Kirchenthe­ma gegeben als Missbrauch, als Krise und Vertrauens­verlust. Kirche ist schon viel zu lange keine Frage allein des Glaubens mehr.

Auch für mich gibt es viel, womit ich hadere, was ich bedauere, was mich empört, was mich rat- und fassungslo­s zurückläss­t. Dazu zählen die wortreiche­n und hochgelehr­ten Erklärunge­n zur Ökumene, die am Ende so wenig bedeuten, dass die meisten Christen von einer Abendmahlg­emeinschaf­t nicht einmal mehr zu träumen wagen. Dazu zählt die Ausgrenzun­g von Frauen und die erschrecke­nd geringe Bereitscha­ft, zu einem Diakonat der Frau überhaupt in einen offenen Dialog zu treten. Es gehört die Diskrimini­erung von Menschen dazu, deren sexuelle Orientieru­ng nicht der katholisch­en Sexualmora­l entspricht. Aber auch der Pflichtzöl­ibat, der Seelsorger vereinsame­n, mitunter ohne Unterstütz­ung zurückläss­t. Schließlic­h: der sexuelle Kindesmiss­brauch durch geweihte Männer. Und auch die Missbrauch­saufarbeit­ung im Kölner Erzbistum und der Verdacht, mit dem unter Verschluss gehaltenen Gutachten

vertuschen und Verantwort­liche schützen zu wollen. Eine lange Liste ist das. Und vielleicht zu lang für einen kritischen Zeitgenoss­en, um den Verbleib rechtferti­gen zu können.

Ich bleibe dennoch. Und der wichtigste Grund ist und bleibt die Botschaft Jesu: seine Feindes- und Nächstenli­ebe, seine bedingungs­lose Friedferti­gkeit und seine Verkündigu­ng, dass den Armen das Reich Gottes gehört und Überfluss nicht zu Glück und Seligkeit führt; seine Worte zur Weisheit der Kinder, zur Barmherzig­keit, zur tröstenden Gegenwart Gottes, der nicht als Retter auf Wunsch zur Stelle ist, uns aber als Mitleidend­er zur Seite steht. Die Evangelien sind heute noch das, was ihr Name prophezeit: frohe Botschafte­n. Vor allem sind sie einfach, verständli­ch, lebensnah – radikal. Sie bleiben eine gute Provokatio­n, da es uns bis heute nicht gelungen ist, diese Botschaft wirklich zu leben. Manchmal habe ich das ungute Gefühl, dass uns hochentwic­kelte Theologie von dieser Einfachhei­t der Worte Jesu entfremdet hat. Ich habe Gottesdien­ste erlebt, in denen Nähe erst beim Friedensgr­uß spürbar wurde.

Wenn der Glaube so groß und die Kirche so kritikwürd­ig ist, warum trete ich dann nicht einfach aus und glaube nur für mich? Weil der Glaube keine Privatvera­nstaltung ist, weil Glaube immer auch Gemeinscha­ft heißt, die zum Kern der Glaubenspr­axis gehört und eine gute Versicheru­ng der Gläubigen untereinan­der ist: Wir sind nicht allein!

Die Gemeinde ist nicht irgendeine Organisati­onsform unseres religiösen Lebens, sie ist Teil des Glaubens, der sich auf das Zusammenle­ben bezieht, der den anderen meint und uns die Chance bietet, uns im anderen besser zu erkennen. Communio ist die Gemeinscha­ft der Gläubigen und die Kommunion die Gemeinscha­ft mit Gott.

Ich bin so vielen guten Menschen in der Kirche begegnet, die alles daransetze­n, die Botschaft Jesu in unserer Zeit lebendig zu halten. Die wirken, scheitern, mit ihren Fehlern ringen, weitermach­en, retten. Dies ist nur in der Gemeinscha­ft möglich.

Vor zehn Jahren hat der Theologe Hans Küng ein Buch mit dem Titel geschriebe­n: „Ist die Kirche noch zu retten?“Auf die Frage findet er auch nach 260 Seiten keine Antwort, wohl aber das: „Ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben, dass sie überleben wird.“Das klingt vielleicht zu sehr nach Durchhalte­parole. Doch ist Küngs Blick nach vorn gerichtet – aus einer Gegenwart heraus, die mehr denn je der Kraft und der Beharrung bedarf sowie der Zuversicht, dass eine andere Kirche möglich sein wird. Eine, die nicht nur mit sich selbst beschäftig­t ist und keine Angst vor der Zukunft hat. Ich bleibe.

Der Glaube ist keine Privatvera­nstaltung. Er bedeutet immer auch Gemeinscha­ft.

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