Wir sind nicht allein
Ich bleibe. Und wenn ich bekenne, weiterhin Mitglied der katholischen Kirche sein zu wollen, klingt das mittlerweile fast nach einer exotischen Haltung. Denn Kirchenaustritte scheinen in Mode gekommen zu sein. Bei manchen Amtsgerichten in NRW sollen bis Ende April keine Austrittstermine mehr zu haben sein.
Der Entschluss, der Kirche den Rücken zu kehren, klingt nach aufgeklärt-kritischem Geist, nach Protest und Abstrafung. Und darum werden schon Austrittsvorhaben manchmal sehr öffentlich angekündigt. Manchmal klingt es geradezu wie eine heroische Tat. Selbst für ältere Menschen ist der Kirchenaustritt nach einem langen, engagierten Gemeindeleben keine Häresie mehr. Für mich ist die Abkehr nie eine Option gewesen. Weil Glaube meinem Leben hilft und mir wichtige Leitplanken schenkt. Und weil Kirche zu meinem Glaubensverständnis dazugehört. Unterm Strich empfinde ich mich als eine katholische Existenz.
Dabei stamme ich nicht aus einer streng katholischen, eher fröhlich katholischen Familie mit dem Hang zur religiösen Unverbindlichkeit. Messdiener bin ich geworden wie derzeit viele. Wenn ich damals in der neogotischen Kirche von St. Peter in Duisburg nach den Gottesdiensten werktags Kerze um Kerze löschen musste, habe ich mich immer gefürchtet – und mich gesputet, aus der Finsternis in die Sakristei zu kommen. Ich habe die Sommer-Freizeiten der Pfarre genossen und nach der Schule viele Stunden in jenen kahlen Gemeinderäumen zugebracht, die unter dem kruden Namen „Jugendzentrum“firmierten. Dass ich als Kind jeden Sonntag die Heilige Messe besuchte – selbst wenn ich nicht diente –, hatte unter anderem mit dem Schwager meiner Oma zu tun, der Küster der Gemeinde
war und mich vom Altarraum aus fest im Blick hatte. Meine Kirchgänge dürften also mehr der familiären Gesichtswahrung geschuldet gewesen sein. Die Oma selbst war sehr gottesfürchtig und eilte bei jedem Gewitter in den Keller, um bei Kerzenschein die Mutter Gottes anzurufen, während wir oben gelassen auf das Ende des ungemütlichen Wetters warteten. Eine Schwester meiner Oma (die das Motorradfahren liebte) wurde Ordensfrau, ein Bruder wollte Priester werden und wirkte schließlich als feinsinniger Grundschuldirektor.
Kirchen-Erlebnisse prägten meine Kindheit. Verklären aber können solche Rückblicke heute nichts mehr. Denn zu desillusionierend ist Vieles, was ich als Katholik und als Journalist erlebe. Es scheint, als hätte es in den zurückliegenden Jahren kein anderes Kirchenthema gegeben als Missbrauch, als Krise und Vertrauensverlust. Kirche ist schon viel zu lange keine Frage allein des Glaubens mehr.
Auch für mich gibt es viel, womit ich hadere, was ich bedauere, was mich empört, was mich rat- und fassungslos zurücklässt. Dazu zählen die wortreichen und hochgelehrten Erklärungen zur Ökumene, die am Ende so wenig bedeuten, dass die meisten Christen von einer Abendmahlgemeinschaft nicht einmal mehr zu träumen wagen. Dazu zählt die Ausgrenzung von Frauen und die erschreckend geringe Bereitschaft, zu einem Diakonat der Frau überhaupt in einen offenen Dialog zu treten. Es gehört die Diskriminierung von Menschen dazu, deren sexuelle Orientierung nicht der katholischen Sexualmoral entspricht. Aber auch der Pflichtzölibat, der Seelsorger vereinsamen, mitunter ohne Unterstützung zurücklässt. Schließlich: der sexuelle Kindesmissbrauch durch geweihte Männer. Und auch die Missbrauchsaufarbeitung im Kölner Erzbistum und der Verdacht, mit dem unter Verschluss gehaltenen Gutachten
vertuschen und Verantwortliche schützen zu wollen. Eine lange Liste ist das. Und vielleicht zu lang für einen kritischen Zeitgenossen, um den Verbleib rechtfertigen zu können.
Ich bleibe dennoch. Und der wichtigste Grund ist und bleibt die Botschaft Jesu: seine Feindes- und Nächstenliebe, seine bedingungslose Friedfertigkeit und seine Verkündigung, dass den Armen das Reich Gottes gehört und Überfluss nicht zu Glück und Seligkeit führt; seine Worte zur Weisheit der Kinder, zur Barmherzigkeit, zur tröstenden Gegenwart Gottes, der nicht als Retter auf Wunsch zur Stelle ist, uns aber als Mitleidender zur Seite steht. Die Evangelien sind heute noch das, was ihr Name prophezeit: frohe Botschaften. Vor allem sind sie einfach, verständlich, lebensnah – radikal. Sie bleiben eine gute Provokation, da es uns bis heute nicht gelungen ist, diese Botschaft wirklich zu leben. Manchmal habe ich das ungute Gefühl, dass uns hochentwickelte Theologie von dieser Einfachheit der Worte Jesu entfremdet hat. Ich habe Gottesdienste erlebt, in denen Nähe erst beim Friedensgruß spürbar wurde.
Wenn der Glaube so groß und die Kirche so kritikwürdig ist, warum trete ich dann nicht einfach aus und glaube nur für mich? Weil der Glaube keine Privatveranstaltung ist, weil Glaube immer auch Gemeinschaft heißt, die zum Kern der Glaubenspraxis gehört und eine gute Versicherung der Gläubigen untereinander ist: Wir sind nicht allein!
Die Gemeinde ist nicht irgendeine Organisationsform unseres religiösen Lebens, sie ist Teil des Glaubens, der sich auf das Zusammenleben bezieht, der den anderen meint und uns die Chance bietet, uns im anderen besser zu erkennen. Communio ist die Gemeinschaft der Gläubigen und die Kommunion die Gemeinschaft mit Gott.
Ich bin so vielen guten Menschen in der Kirche begegnet, die alles daransetzen, die Botschaft Jesu in unserer Zeit lebendig zu halten. Die wirken, scheitern, mit ihren Fehlern ringen, weitermachen, retten. Dies ist nur in der Gemeinschaft möglich.
Vor zehn Jahren hat der Theologe Hans Küng ein Buch mit dem Titel geschrieben: „Ist die Kirche noch zu retten?“Auf die Frage findet er auch nach 260 Seiten keine Antwort, wohl aber das: „Ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben, dass sie überleben wird.“Das klingt vielleicht zu sehr nach Durchhalteparole. Doch ist Küngs Blick nach vorn gerichtet – aus einer Gegenwart heraus, die mehr denn je der Kraft und der Beharrung bedarf sowie der Zuversicht, dass eine andere Kirche möglich sein wird. Eine, die nicht nur mit sich selbst beschäftigt ist und keine Angst vor der Zukunft hat. Ich bleibe.
Der Glaube ist keine Privatveranstaltung. Er bedeutet immer auch Gemeinschaft.