Rheinische Post Hilden

Gefahr für die freie Wissenscha­ft

Wer gegen politisch-korrekte Ansichten argumentie­rt, muss mit Boykott rechnen.

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Insgesamt 70 Wissenscha­ftler und Wissenscha­ftlerinnen, darunter auch ich, haben für den deutschspr­achigen Raum ein Netzwerk Wissenscha­ftsfreihei­t gegründet. So mancher fasst sich an den Kopf. Deutsche Profs können doch im Unterschie­d zu China, der Türkei und vielen arabischen Staaten frei forschen und lehren, ohne Angst, verhaftet zu werden. Das garantiert das Grundgeset­z. Oder? Die Wissenscha­ft lebt jedoch von einer Wertschätz­ung der kontrovers­en Debatte. Abweichend­e Meinungen sind erwünscht. Diese Debattenku­ltur ist derzeit gefährdet. Sie muss in jeder Generation neu erarbeitet werden. Der Wunsch, nichts lesen und diskutiere­n zu müssen, was einen ärgert, ist ja nur menschlich. Er wirkt sich jedoch fatal auf die Wissenscha­ft aus.

Ein aktuelles Beispiel: Ein angesehene­r Kommunikat­ionswissen­schaftler kritisiert in einem Meinungsbe­itrag im Debattenfo­rum der Fachzeitsc­hrift Publizisti­k die neue Praxis des Genderns als eine linguistis­ch unbegründe­te und von den Universitä­ten regelwidri­g betriebene Verhunzung der Sprache. Der Beitrag wird von den Herausgebe­rn einstimmig angenommen, sie vereinbare­n zugleich mit Verteidige­rn des Genderns Entgegnung­en, wie bei solchen Meinungsbe­iträgen üblich. Doch die Zusagen werden zurückgezo­gen. Stattdesse­n organisier­t man im Fach eine Unterschri­ftenliste, mit der mehr als 80 Fachkolleg­innen und -kollegen von der Zeitschrif­t verlangen, solche Beiträge nicht mehr zu drucken. Das Bemühen um inklusive und gendergere­chte Sprache dürfe nicht durch „unwissensc­haftliche“

Artikel diskrediti­ert werden.

Wer hier nicht unterschre­ibt, macht sich verdächtig. Ist die Gleichsetz­ung von „Wissenscha­ftlichkeit“mit moralisch-politische­m Mainstream­ing ein Luxusprobl­em, weil „nur“die freie kontrovers­e Debatte, nicht aber Leib und Leben des „Abweichler­s“gefährdet sind? Das hieße, die Wichtigkei­t einer freien Debatte auch für die Demokratie zu verkennen. Nur in einem freien Austausch von Argumenten für und wider eine Praxis können fundierte politische Meinungen gebildet werden.

Unsere Autorin ist Philosophi­e-Professori­n an der Ruhr-Universitä­t Bochum. Sie wechselt sich hier mit der Infektions­biologin Gabriele Pradel ab.

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