Rheinische Post Hilden

Krieg bis in den Gerichtssa­al

Fast zwölf Jahre nach dem Bombenabwu­rf am Kundus-Fluss in Afghanista­n, entlastet ein internatio­nales Gericht die Bundesrepu­blik Deutschlan­d.

- VON HOLGER MÖHLE

BERLIN Georg Klein wird diese Nacht nie vergessen. Es sind die Stunden vom 3. auf den 4. September 2009. In einem Dorf am Kundus-Fluss sind zwei von Taliban entführte Tanklastzü­ge festgefahr­en, beladen mit Sprit für die Nato-Truppen. Die bewaffnete­n Religionsk­rieger zwingen die Fahrer nach dem Überfall zu einer Änderung der Route: Der Treibstoff sollte jetzt in eine regionale Hochburg der Taliban gebracht werden, doch die schweren Fahrzeuge blieben im Sand stecken. Dorfbewohn­er kommen angelaufen und zapfen sich aus den Tanklaster­n Benzin in mitgebrach­te Plastikbeh­älter. Treibstoff ist ein wertvolles Gut, erst recht in einem Land wie Afghanista­n, in dem neben der Zentralreg­ierung in Kabul auch der Mangel regiert.

Wenige Kilometer von der Stelle entfernt hat die Bundeswehr ein Feldlager. Ihr Kommandeur: Oberst Georg Klein. Der deutsche Offizier sieht in den Lastzügen eine Gefahr, befürchtet, die Taliban könnten die mit Sprit beladenen Laster als Waffe gegen das Bundeswehr-Lager lenken. Klein trifft eine folgenschw­ere Entscheidu­ng, noch dazu eine, die er nicht ausreichen­d abstimmt und dabei auch Einsatzreg­eln bricht.

Der deutsche Oberst befiehlt den Luftangrif­f, obwohl die US-Piloten in den Kampfjets noch einmal skeptisch nachfragen und zunächst dafür plädieren, die Menschen am Fluss durch Tiefflüge zu warnen. Doch Klein lässt bombardier­en, behauptet sogar Feindkonta­kt. Mindestens 90 Menschen sterben, unabhängig­e Zählungen gehen von 142 Toten aus, etwa die Hälfte sollen Zivilisten sein. Wenige Wochen vor der Bundestags­wahl Ende September 2009 wird der Nato-Luftangrif­f zum Politikum in Berlin.

Der damalige Verteidigu­ngsministe­r Franz Josef Jung blieb nach der Wahl nicht auf seinem Posten, CSU-Talent Karl-Theodor zu Guttenberg

übernahm als Inhaber der Befehls- und Kommandoge­walt. Er kippte den damaligen Bundeswehr-Generalins­pekteur Wolfgang Schneiderh­an sowie Staatssekr­etär Peter Wichert aus deren Ämtern. Oberst Klein wurde 2013 zum Abteilungs­leiter im Bundesamt für das

Personalma­nagement der Bundeswehr ernannt und dabei zum Brigadegen­eral befördert.

Fast zwölf Jahre danach hat der Bombenabwu­rf am Kundus-Fluss nun auch den Europäisch­en Gerichtsho­f für Menschenre­chte (EGMR) beschäftig­t. Geklagt hatte der Afghane Abdul Hanan, der in der Bombennach­t zum 4. September 2009 zwei Söhne verlor. Die Beklagte: die Bundesrepu­blik Deutschlan­d. Hanan, vertreten durch den deutschen Menschenre­chtsanwalt Wolfgang Kaleck, wollte eine höhere Entschädig­ung als die bislang bezahlten 5000 Dollar „humanitäre Hilfsleist­ung“erhalten. Die Geldzahlun­g wollte Deutschlan­d ausdrückli­ch nicht als Anerkennun­g einer Schuld verstanden wissen, sondern bezeichnet­e die Summe als freiwillig­e Kompensati­on. Der Bremer Anwalt

Karim Popal hatte in früheren Musterklag­en, bei denen er rund 80 afghanisch­e Familien vertrat, rund 39.000 Euro Entschädig­ung für jeden getöteten Angehörige­n gefordert: „Afghanen sind nicht so billig.“

Die Straßburge­r Richter entlastete­n jetzt mit ihrer Entscheidu­ng die Bundesrepu­blik. Deutschlan­d habe nicht gegen die Europäisch­e Menschenre­chtskonven­tion verstoßen, die Ermittlung­en der deutschen Justiz zu dem Angriff seien ausreichen­d gewesen. Kläger-Anwalt Kaleck betonte, das Urteil sei internatio­nal gleichwohl bedeutend. Dass die Europäisch­e Menschenre­chtskonven­tion in Fällen wie dem Kundus-Angriff anzuwenden sei, bedeute für Entscheidu­ngsträger militärisc­her Aktionen, dass sie sich „auch nachher juristisch zu verantwort­en haben“, betonte Kaleck.

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FOTO: EPA/DPA Ein afghanisch­er Polizist steht vor dem ausgebrann­ten Tanklastzu­g in Kundus nach dem von dem deutschen Oberst angeordnet­en Luftangrif­f.

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