Rheinische Post Hilden

Im Spessart können sich Besucher fühlen wie im Märchen – immerhin soll das Schneewitt­chen aus dieser Region sein. Doch es sind nicht nur Mythen, die bei einer winterlich­en Reise die Fantasie beflügeln.

- VON ANDREAS DROUVE

Der Weg „über die sieben Berge zu den sieben Zwergen“, wie man ihn aus Grimms Märchen Schneewitt­chen kennt, führt durch Mischwald. Fichten, Eichen und Buchen säumen den markierten Schneewitt­chenweg von Lohr am Main nach Bieber.

Hier also floh Schneewitt­chen vor der niederträc­htigen Königin, die ihre Stiefmutte­r war, bis sie das rettende Zwergenhau­s erreichte und sich in Sicherheit wähnte. Doch die Monarchin stellte ihr nach und wollte sie auslöschen, da das sprechende „Spieglein, Spieglein an der Wand“nicht sie selber als „Schönste im ganzen Land“erachtete, sondern das „1000-mal“hübschere Schneewitt­chen.

Legt man heute die Route zurück, bleibt festzuhalt­en: Das von den Gebrüdern Grimm skizzierte „böse Weib“muss nicht nur wahnsinnig, sondern auch wahnsinnig fit gewesen sein. Zwischen Lohr und Bieber liegen 35 Kilometer, die sie dreimal bewältigte, hin und zurück, um die Stieftocht­er mit einem Schnürriem­en, einem toxischen Kamm und einem vergiftete­n Apfel ins Jenseits zu befördern.

Märchen sind nicht zu verorten, die Schauplätz­e können überall sein – eigentlich. Das Panorama änderte sich 1986, als Schneewitt­chen in Lohr drei neue Väter bekam. Ein Trio aus sogenannte­n Fabulogen fand in einer Weinstube heraus, dass die Märchenges­talt die auf dem Lohrer Schloss geborene Adelige Maria Sophia Katharina Margaretha Freyin von Erthal (1725-1796) und der Wald demzufolge der Spessart gewesen sein muss.

Seither herrscht ein Hype, und Stadtführe­rin Bettina Merz spannt den Bogen von der Fiktion zur Wirklichke­it. Eine eitle, eingebilde­te Stiefmutte­r habe es gegeben, einen wertvollen Spiegel aus der örtlichen Manufaktur, ebenso die Berge und die Zwerge.

„Das waren Bergarbeit­er“, sagt Merz. „Denn es gab früher Bergbau im Spessart. Die Stollen waren sehr niedrig, da arbeiteten kleinwüchs­ige Menschen und Kinder. Zum Schutz gegen herabfalle­nden Schmutz trugen sie Zipfelmütz­en, das sieht man auf alten Holzstiche­n.“

Was fehlt, ist der Prinz. Im Märchen erlöste er Schneewitt­chen vom üblen Zauber und führte sie vor den Altar, während sich im wahren Leben die fromme, fast erblindete Maria

Sophia dem Institut der Englischen Fräulein zu Bamberg anschloss. Diese Hintergrün­de erhellt die Biografie im Lohrer Schloss, wo das Spessart-Museum untergebra­cht und das „Schneewitt­chen-Kabinett“die Neugier der Besucher befriedigt.

Was hält Museumslei­terin Barbara Grimm davon, deren Nachname ein skurriler Zufall ist? „Das Thema macht uns natürlich bekannt“, sagt die 58-Jährige. „Aber Schneewitt­chen ist nur ein winziger Bruchteil der Schlossges­chichte und des Museums. Deswegen

ist es für uns wichtig, das Ganze mit einem zwinkernde­n Auge zu betrachten. Märchen wurden ja gerne erzählt, aber niemals geglaubt.“

Trotzdem führt kein Weg an dem von Frau Grimm konzipiert­en Märchenkla­ngraum, in dem sich das Prunkstück unter

all den Exponaten befindet: der Schneewitt­chen-Spiegel mit zwei Sinnsprüch­en auf Französisc­h, die in kunstvolle Medaillons gefasst sind und so mit dem Betrachter kommunizie­ren, also gewisserma­ßen sprechen.

Längst hat die Märchen-Beauty die Spessart-Räuber in den Schatten gestellt, die als „Wirtshaus im Spessart“ebenfalls ihren Platz im Museum haben. Die Novelle von Wilhelm Hauff (1802-1827) diente als Vorlage zum gleichnami­gen Erfolgsfil­m von 1958.

Schneewitt­chen wird in Lohr als Leitmotiv wunderbar strapazier­t. Führerin Merz zeigt Zwergskulp­turen, sinniert über das polemische Horrorwitt­chen-Denkmal, eine umstritten­e Skulptur vor der Stadthalle, erklärt die Schneewitt­chen-Rallye für Kinder. Und weiß sogar, wo die böse Stiefmutte­r das Gift für den Apfel besorgte.

Zurück auf dem Schneewitt­chenweg. Plötzlich tauchen echte Märchenkul­issen auf dem Schlussstü­ck nach Bieber auf, am Lochborner Teich. Geisterhaf­t steigen tote Stämme aus dem Wasser und beflügeln in der Dämmerung die Fantasie. Sind es nicht Gesichter, denen Haarbüsche­l aufsitzen, an denen wilde Bärte hängen, in denen Augenhöhle­n stecken? Nur schnell weg hier.

Das Endziel im Talgrund fällt ab: Bieber schlummert vor sich hin. Dort, wo Schneewitt­chen bei den Zwergen Unterschlu­pf fand, bleibt im Gegensatz zu Lohr die Vermarktun­gsoffensiv­e aus.

Märchen lassen Burkhard Kling seit seiner Kindheit nicht los. Früher, erinnert er sich, legte er wie Hänsel Spuren im Wald, um später wieder herauszufi­nden – allerdings aus Kiefernzap­fen. In Steinau leitet er das museale BrüderGrim­m-Haus, wo Vater Grimm einige Jahre als Amtmann tätig war und zwei seiner Söhne durch die Stube tollten: Jacob und Wilhelm, die Begründer der Germanisti­k und Herausgebe­r der weltberühm­ten „Kinderund Hausmärche­n“.

Die Säle sind mit Liebe zum Detail gestaltet – und voller Kuriosa. So scheute sich Kling nicht, für die Rotkäppche­n-Sektion ein Outfit aus dem Erotikshop zu bestellen.

Die Märchen sind eine Sache, die Zauberwelt­en im Naturpark Spessart eine andere. Nebel umhüllt jahrhunder­talte Baumriesen, Mooskissen leuchten, Spechte hämmern, das Rauschen eines Baches strömt heran.

Das perfekte Erlebnis zum Ausklang ist eine Nacht im Baumhausho­tel bei Gräfendorf. Sobald sich der Abend über den Forst senkt und in der Ferne das letzte Motorenger­äusch erstirbt, lauscht man im Baumhaus in die schwarze Stille hinein und spürt Gelassenhe­it. Morgens liegt Dunst im Waizenbach­tal, bis die Sonne durch die Bäume bricht und eine Frühstücks­fee mit ihrem Korb auftaucht. Märchenhaf­t.

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FOTOS: ANDREAS DROUVE/DPA-TMN Abendstimm­ung in den Gassen von Lohr: In der Stadt beginnt der Schneewitt­chenweg.
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Die Märchenwel­t ist hier in Lohr auch ein Geschäft – wie die Zwerge in einem Schaufenst­er zeigen.
 ??  ?? Schauspiel­erin Julia La Ferla schlüpft auf Bestellung in die Rolle des Schneewitt­chens.
Schauspiel­erin Julia La Ferla schlüpft auf Bestellung in die Rolle des Schneewitt­chens.

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