Kalt erwischt, aber überglücklich
Mit seinem Engagement im Ballett der Rheinoper erfüllte sich der Traum von Julio Morel aus Paraguay, in Europa zu tanzen.
DÜSSELDORF Es war eine lange Reise von Paraguay bis nach Deutschland. Der Flug mit zwei Zwischenlandungen in Brasilien und einer in Paris endete vorige Woche in Düsseldorf. Julio Morel war am Ziel. Endlich. Hinter ihm lagen Monate des Wartens und Bangens. „Ich dachte schon, das klappt nie mehr“, sagt er.
Seit August hatte der Tänzer vergeblich auf eine Möglichkeit gehofft, nach Europa zu gelangen. Die Sehnsucht, sein Engagement beim Ballett der Deutschen Oper am Rhein pünktlich anzutreten, erfüllte sich nicht. Wegen der Pandemie blieben alle erreichbaren Flughäfen geschlossen. In Mexiko, wo Julio Morel zuletzt getanzt hatte, und in seiner Heimat Paraguay, wo er bei seiner Familie ausharrte. „Es war aber keine verlorene Zeit“, beteuert er. „Dort schöpfte ich die Energie, die ich jetzt brauche.“
Eine Weile später zog er in die Hauptstadt Asunción um, um wieder unter professionellen Bedingungen zu trainieren: „Das muss man auch, sonst baut die Muskulatur ab.“Über Videoaufnahmen verfolgte Julio Morel den Start von Demis Volpi in Düsseldorf. Mit Wehmut im Herzen beobachtete er die neugeformte und hochmotivierte Compagnie. „Ich konnte sehen, wie hart alle arbeiten. So gern wäre ich dabei gewesen. Es war eine Geduldsprobe.“
Doch plötzlich, Ende Januar, ging alles sehr schnell. Das Visum war da, der Flug gebucht. Wenige Tage später verließ Julio Morel Südamerika. Etwas überstürzt, wie er nun weiß. „Ich hatte keine Ahnung, wie kalt der Winter in Deutschland ist“, sagt er. „Eine große Überraschung war der Schnee, den ich bisher nur im Film gesehen habe und nun zum ersten Mal berührte. Es gibt hier überhaupt viele Dinge, die ich nicht kenne. Ich fühle mich gerade wie ein kleines Kind, das noch viel lernen muss.“Er lacht und streicht über seinen Pullover. „Nicht einmal warme Kleidung konnte ich mir zu Hause noch kaufen. Was ich trage, hat mir jemand geliehen, damit ich nicht so friere.“Dennoch, niemand könnte glücklicher sein als Julio Morel. „Ich habe immer davon geträumt, in Europa zu tanzen, wo es so viele kreative und großartige Compagnien gibt. Aber in Düsseldorf werden alle meine Wünsche noch übertroffen. Allein dieses wunderbare Balletthaus“, schwärmt er,
„solche komfortablen Bedingungen kannte ich bisher nicht.“
Voller Eifer begann er sofort nach seiner Ankunft mit dem Training. Es wartet eine schöne Aufgabe auf ihn: ein Hauptpart in der Uraufführung „In C“, choreografiert von Twyla Tharp, eine der großen Legenden ihrer Zunft. Das komplette Stück studiert sie aus ihrem Studio in New
York über Live-Video-Sessions ein. „Ich bin immer auf der Bühne und sehr stolz, dass sie mir eine so anspruchsvolle Aufgabe anvertraut hat“, sagt Morel. „Twyla ist Ende 70 und hat eine umwerfende Energie. Wenn sie ihre Choreografie vortanzt, wirkt sie unglaublich jung.“
Natürlich brennt der 26-Jährige wie die gesamte Compagnie darauf, das Ballett bald vor Publikum aufführen zu können. „Trotzdem will ich mich nicht beklagen, hier läuft der Betrieb wenigstens weiter. Man kann in gewissem Rahmen in kleinen Gruppen trainieren und sich kennenlernen. Beim Staatsballett in Mexiko City ist schon seit Mai alles dicht.“Dort traf er seinerzeit auf Demis Volpi, erarbeitete mit ihm die Choreografie zu Igor Strawinskys „Le sacre du printemps“. Von ihm verpflichtet zu werden, sei ein Geschenk, sagt Julio Morel.
Mit sieben Jahren verspürte der jüngste von fünf Brüdern einen gewaltigen Bewegungsdrang. In seiner Schule gab es jeden Samstag eine Gelegenheit zum Folklore-Tanz. Die nutzte er. Eines Tages kam eine Tanzlehrerin dazu, die das Talent des Jungen erkannte und ihn in ihrem Studio förderte. Unvergessen ist ihm der Malambo. Julio Morel steht auf und stampft wild auf den Boden: „Alles ging mit den Füßen, ich habe den Malambo geliebt! In Paraguay kann es für Kinder sehr gefährlich sein. Auch mein Elternhaus war ein eher düsterer Platz. Nur in der Tanzschule fühlte ich mich sicher und glücklich.“
Dieselbe Lehrerin gab dann dem Zehnjährigen den Rat, Ballett zu tanzen. „Sie hat wohl etwas in mir erkannt“, sagt Morel. „Meine Eltern waren skeptisch, vor allem mein Vater.
Er fand, das sei Mädchenkram.“Das konnte er sogar verstehen. „Ich hatte die Familienregeln gebrochen. Und selbst ich wusste damals nicht viel mit dieser Idee anzufangen. Bis ich bei einem Wettbewerb in New York vom Erlebnis des klassischen Balletts überwältigt wurde und sicher war, dass ich genau das machen will.“Heute, fügt er hinzu, seien seine Eltern sehr stolz auf ihn.
Mit 15 Jahren ging Julio Morel zur Ausbildung nach Brasilien, studierte und arbeitete danach in San Francisco, wechselte von dort nach Mexiko Stadt. Fünf Jahre später wähnt er sich in Deutschland an seinem Ziel, dankbar, seinen Weg gefunden zu haben. Er sagt: „Jetzt bin ich hier, um zu arbeiten, was sehr aufregend ist. Für mich beginnt ein neues Leben.“