„Besondere Gespräche finden oft nachts statt“
Das Protokoll Andrea Berneis erzählt von ihrer Arbeit als Telefonseelsorgerin und welcher Anruf ihr besonders in Erinnerung bleibt.
Bei der Telefonseelsorge geht es ums gute Zuhören, darum, mit dem Gesprächspartner eine Verbindung aufzunehmen, sodass dieser sich verstanden fühlt. Dann ist es ein gutes Gespräch. Das ist wichtig für mich, weil ich ja hinterher nicht weiß, was aus den Sorgen wird, mit denen jemand bei uns anruft. So weiß ich: Ich habe jetzt 20, 30 Minuten zugehört, mich dem Anrufer gewidmet, mir seine Sorgen angehört – und dadurch seine Welt nicht verändert, aber ihm vielleicht etwas Druck genommen.
Das steht für mich im Zentrum meines ehrenamtlichen Engagements bei der Telefonseelsorge. Das mache ich schon seit einigen Jahren, seit 2016 in Düsseldorf, vorher in Ulm. Dort habe ich eine Zeit lang als Anwältin gearbeitet, doch irgendwann hat es mich zurück in meine Geburtsstadt gezogen. Mein Beruf macht mir viel Freude, allerdings geht es in Unternehmen immer um Performance, immer um Profit – und darunter leiden auch viele. Dem wollte ich etwas entgegensetzen, etwas machen, ohne dafür eine Gegenleistung zu erwarten. So kam ich zur Telefonseelsorge.
Ich besetze drei Schichten pro Monat, jeweils vier Stunden lang. Wir sind 24 Stunden am Tag erreichbar, auch an Heiligabend und Silvester. Besondere Gespräche finden oft in der Nacht statt, da entwickelt sich eine spezielle Tiefe, die Leute bringen viel Zeit mit. Pro Tag arbeiten hier sieben Ehrenamtler, manche Schichten sind doppelt besetzt, vor allem abends. Wir haben Einzelbüros, wo in Düsseldorf diese liegen, möchte ich aber nicht verraten. Bei der Telefonseelsorge geht es auch um Verschwiegenheit, um Anonymität, das soll gewahrt werden. Momentan gelten natürlich auch hier Corona-Regeln, aber wir dürfen weiter ins Büro kommen.
In der Pandemie haben sich die Gründe für einen Anruf eigentlich kaum verändert. Allerdings spielt Corona in fast jedem Gespräch eine Rolle – und die Zahl der Anrufer ist deutlich gestiegen, 2020 waren es rund 15.000 allein in Düsseldorf. So wurden schon einige Ehemalige reaktiviert und wir versuchen, auch die Vormittags-Schicht doppelt zu besetzen. Insgesamt arbeiten in Düsseldorf 120 Ehrenamtler, mehr Frauen als Männer, etwa die Hälfte ist noch berufstätig. In unserer Region, zu der auch Neuss, Solingen und Wuppertal gehören, gibt es je nach Tageszeit vier bis sechs offene Leitungen. Oft kommen Anrufer nicht sofort durch, und es gibt keine Warteschleife, dann muss man es einfach erneut versuchen. Gäbe es mehr Leitungen, würden diese auch genutzt, da bin ich mir sicher.
Das Grund-Thema ist oft Einsamkeit. Allerdings in ganz unterschiedlichen Ausprägungen, besonders jetzt in Pandemie-Zeiten. Da gibt es die dauerhaft Zurückgezogenen, die wenige oder sogar gar keine sozialen Kontakte haben. Die rufen öfter an, und sie sind von der Pandemie weniger belastet: Sie kennen es ja eigentlich nicht anders. Dann gibt es Menschen, die haben eine Familie oder einen Partner, können mit diesem aber nicht über alles reden. Und weil Freunde treffen im Moment schwierig ist, rufen sie bei der Seelsorge an. Besonders hart trifft die Pandemie die Geselligen, die sind richtig ausgebremst momentan. Von denen bekommen wir aber nicht so viele Anrufe, sie finden oft andere Lösungen.
Für die Arbeit bei der Telefonseelsorge macht man eine einjährige Ausbildung und bekommt regelmäßige Supervisionsangebote. Dadurch habe ich gelernt, dass es nicht darum geht, denjenigen zu retten, der am anderen Ende der Leitung sitzt. Das kann ich nicht, und das muss ich auch nicht. Die Kunst ist vielmehr, ein Gefühl für den anderen zu entwickeln, ihn ernstzunehmen und dazu beizutragen, dass er mit seinen Problemen besser umgehen kann. Die Stichworte sind Selbstwirksamkeit und Wertschätzung.
Letzteres spielt auch am Ende jedes Gesprächs eine wichtige Rolle. Durchschnittlich dauert ein Gespräch zwischen 20 und 40 Minuten. Wenn ich merke, dass wir uns im Kreis drehen, versuche ich, es so zu lenken, dass der Anrufer mit einem guten Gefühl auflegen kann. ,Mit diesem Gedanken würde ich mich gerne von Ihnen verabschieden’ sage ich dann etwa, manchmal verhandeln wir auch noch ein bisschen, meist klappt das aber gut.
Ich werde oft gefragt, ob ich schon einmal jemanden in der Leitung hatte, der sich umbringen wollte. Aber dass jemand anruft und sagt: ,Ich stehe hier und springe gleich, wenn Sie mir jetzt nicht helfen’, das ist ein Klischee. Das heißt aber nicht, dass das Thema keine Rolle spielt. Ich habe gelernt, damit umzugehen und lasse den Anrufer immer spüren, dass ich mich um ihn sorge. Ich versuche, Zeit zu gewinnen, damit er wieder Hoffnung bekommt. Am Ende bitte ich ihn um sein Versprechen,
wieder Kontakt aufzunehmen – zu uns oder einer anderen Stelle. Wenn mich einmal etwas sehr stark mitnimmt, kann ich aber auch mein Telefon kurz auf Pause stellen und mir einen Tee kochen oder mit einem Kollegen sprechen.
Eine Anruferin ist mir besonders im Gedächtnis geblieben, mit ihr habe ich schon mehrfach gesprochen, immer auch über Suizid. Jedes Mal haben wir Ideen entwickelt für einen Neustart, dazu, wie es doch weitergehen könnte. Jetzt habe ich schon länger nichts mehr von ihr gehört – und weiß nicht, was mit ihr ist. Vielleicht hat sie ihren Plan umgesetzt, vielleicht hat sie sich Hilfe in einer Einrichtung gesucht. Mit dieser Unwissenheit umzugehen, gehört zum Job dazu, auch wenn es manchmal wirklich unter die Haut geht.
Insgesamt finde ich, dass Seelsorgeangebote eine viel größere gesellschaftliche Rolle spielen sollten. Wir sollten einander besser zuhören und nicht weghören, wenn es um Tabuthemen oder Schreckliches geht. Empathie und emotionale Kompetenz sind unheimlich wichtige Eigenschaften, das sollte sich zum Beispiel auch in der Arbeitswelt widerspiegeln. Vielleicht ist die Corona-Pandemie dabei sogar eine Chance: Gerade sind viele einsam, viele unter Stress, viele hilflos und die Seelsorge – nicht nur bei der Telefonseelsorge – ist nicht im Lockdown, sondern weiter für die Menschen da. Das zeigt die Bedeutung dieser Arbeit, und so sollte sie auch gewürdigt werden.
Protokolliert von Marlen Keß.