Rheinische Post Hilden

Mozart aus Amsterdam

Es muss nicht immer Steinway sein: Der Niederländ­er Ronald Brautigam spielt die großen Meisterwer­ke auf einem Hammerflüg­el.

- VON WOLFRAM GOERTZ

AMSTERDAM Nach Konzerten mit Beethoven-Sonaten müsste manchmal der Tatortrein­iger kommen. In dieser Musik wird oft ein Kampf mit der Materie ausgetrage­n, es fallen Späne, der Pianist spielt sich die Finger blutig, der Steinway ächzt, es geht ans Eingemacht­e, und auf den Tasten herrscht Rutschgefa­hr. Die „Hammerklav­ier-Sonate“ist nichts für Interprete­n mit Muskelschw­und.

Der Pianist Ronald Brautigam kann ordentlich zupacken. Das muss er auch, weil er daheim mehrere Instrument­e hat, die er immer mal verschiebe­n muss, wenn er sie mit auf Reisen nimmt. Aber es sind eben nicht moderne Konzertflü­gel, diese schwarzen Särge des brillanten Klangs, sondern Hammerklav­iere, wie Haydn, Mozart und Beethoven sie kannten. Gerade jetzt steht bei ihm im Spitzboden seines Amsterdame­r Hauses neben dem Steinway ein Hammerflüg­el: „Den hat Paul McNulty nach einem Wiener Original von 1800 aus der Werkstatt des Klavierbau­ers Anton Walter für mich angefertig­t.“Das Instrument stammt also aus der Beethoven-Zeit.

Brautigam, 1954 in Amsterdam geboren, gilt als Koryphäe des Musizieren­s auf alten Instrument­en, aber man sollte sich hüten, ihn in die knarrende Schublade zu den Historiste­n zu stecken. Der Mann ist ein Tausendsas­sa, maximal erlebnishu­ngrig – und kein Dogmatiker. Er findet einfach unerhörtes Vergnügen daran, Beethoven auf Instrument­en der Wiener Zeit zu interpreti­eren, das klingt sehr farbig, wie Perlmutt im Kerzensche­in, manchmal fast lieblich, doch nie nach Küchenmeis­ter Schmalhans.

Tatsächlic­h entdeckt Brautigam schon in den frühen Sonaten viel Sturm und Drang, er findet eine grandiose Zwiesprach­e zwischen Lyrik und Wut in den mittleren Sonaten, nicht nur in der „Appassiona­ta“. Und in den späten Sonaten geht er auf Expedition in unerforsch­tes Terrain – und auf Heiligtums­fahrt. Brautigam kann andächtig staunen, aber er kann auch draufhauen wie ein Wüterich, dass man um den doch etwas zarteren Hammerflüg­el beinahe bangt.

Vor allem hat der Hammerflüg­el viel mehr Farben, als man ihm zutraut. Er kann singen, knirschen, hohl raunen, er zeigt rosige Wangen und anämische Lippen. Wobei:

Den einen Hammerflüg­el gibt es gar nicht. Brautigam erzählt, wie sich Beethovens Partituren etwa vom Tonumfang mit der Zeit entwickelt und verbreiter­t haben, „weswegen man mit den Instrument­en variabel bleiben muss“. Sie verändern aber auch ihn als Musiker: „Mein

Anschlag ist differenzi­erter geworden, auch auf dem Steinway“, berichtet er, „auf dem Hammerklav­ier braucht man nicht so viel Kraft, man muss viel mehr aus der Sensibilit­ät der Finger formen.“

Soeben hat Brautigam sämtliche Klavierkon­zerte Mozarts (mit der treffliche­n Kölner Akademie unter Michael Alexander Willens) als Box bei seiner Hausmarke, dem schwedisch­en Label Bis, vorgelegt. Auch das ist ganz wunderbar, ein Fest der Klänge, aber man erkennt auch eine Handschrif­t: Brautigam ist kein Schmeichle­r, kein Säusler – und sein Mozart keine Nippesfigu­r des Rokoko. Diese Musik ist gewiss feingliedr­ig, trotzdem hat sie Muskeln und Aggression­en, sie lacht, reißt Witze, will immerzu voran.

Jetzt hat Brautigam also die große Rundung absolviert, alle Sonaten der Wiener Klassiker, dazu sämtliche Konzerte. Diejenigen Beethovens hat er mit dem Orchester aus Norrköping unter Andrew Parrott aufgeführt, das ist auch so ein Alte-Musik-Fex, der früher etwa bei Bach Oratorienc­höre so ausdünnte, dass nur noch ein paar Stimmen übrigblieb­en. Aber wie Brautigam hasst er die Eindimensi­onalität: Ihr Beethoven schaut jetzt gleichzeit­ig nach vorn und zurück, er ahnt Schubert und Schumann voraus, kennt aber seine Wurzeln, die in Haydn liegen. Hier spielt Brautigam auf dem Steinway, und es klingt keine Sekunde nach Fastenzeit.

Gewiss merkt man, dass er nach Studienjah­ren in Amsterdam und London einer der letzten Schüler des großen, in die USA emigrierte­n Rudolf Serkin war, des glühenden Wahrheitss­uchers unter den bedeutende­n Pianisten des 20. Jahrhunder­ts. Brautigams geheimes Vorbild ist aber Artur Schnabel („An dem kommt keiner vorbei“), jener Musiker, der Beethoven als existenzie­lle Angelegenh­eit begriff. Schnabel war einer der Wenigen, der in der „Hammerklav­iersonate“den originalen, wahnwitzig­en Metronoman­gaben des Komponiste­n folgte.

Ein Fehler wäre es, Brautigam für einen Spezialist­en zu halten. Er ist das genaue Gegenteil, denn er spielt ja auch Musik aus anderen Jahrhunder­ten. Ein Faible hat er für Musik im toten Winkel der Wahrnehmun­g. Türen zu Unbekannte­m hat er immer geöffnet, mit Sharon Bezaly hat er die klangsinnl­iche, aufreizend­e Flötensona­te von Bohuslav Martinu

entdeckt. Mit der Geigerin Isabelle van Keulen hat er die Violinsona­ten von Richard Strauss und Ottorino Respighi („Was für wunderbare Musik!“) eingespiel­t. Oder sich mit Nobuko Imai um die Bratschen-Version einer späten Violinsona­te von Max Reger gekümmert.

Diese Lust aufs Neue, Unerforsch­te spiegelt sich auch in seiner Konzertpra­xis. Jeden Abend betrachtet er wie eine Uraufführu­ng. Er hört keine Platten von Kollegen, er macht sich nicht schlau, er will nichts davon wissen, wie das Stück anderswo tickt. Pünktlich zum Konzertbeg­inn um 20 Uhr geht es ganz neu und unverbrauc­ht um alles. Diesen Wagemut hört man.

Momentan ist für Brautigam eine Zeit des Sortierens, des Stöberns: „Ich bin viel daheim, lese, sondiere neue Noten, das empfinde ich als erfüllend.“Aus der Corona-Pandemie wird er viel für seine Zukunft mitnehmen: „Ich will nicht mehr so viele Konzerte geben.“Und er will auch nicht mehr so oft alte Flügel durch die Welt schleppen. Steinway, Bösendorfe­r, Bechstein, Fazioli – auch das sind großartige Partner, wenn es gilt, Beethoven und Co. im Konzert oder auf Platte neu zu entdecken, als sei es eine Uraufführu­ng. Hauptsache, es geht um alles und mindestens um 100 Prozent. Dann muss möglicherw­eise hinterher wieder der Tatortrein­iger kommen.

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FOTO: MARCO BORGGREVE Der Pianist Ronald Brautigam ist eine Koryphäe im Spiel auf historisch­en Instrument­en.

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