Rheinische Post Hilden

„Tago Mago“von Can wird 50 Jahre alt

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Das Album der Kölner Band eröffnete dem Pop neue Möglichkei­ten. Es inspiriert­e nicht nur Radiohead.

DÜSSELDORF Diese Platte ist ein Reiseberic­ht, sie erzählt davon, wie fünf Männer aufbrechen ins Weltall und einen Planeten erreichen, den niemand zuvor betreten hat. Es ist schön dort oben, und vor allem klingt es großartig. Die Musik an diesem Ort kennt keine Zuschreibu­ngen und Genres; Sounds fließen ineinander, alles ist durchlässi­g, freie Diffusion des Schalls. Der Planet heißt Tago Mago, die Klangraumf­ahrer nennen sich Can, und die Stücke, die sie mitbringen, revolution­ieren den deutschen Pop.

Vor 50 Jahren erschien das Doppelalbu­m „Tago Mago“. Gruppen wie Radiohead und die Flaming Lips berufen sich auf dieses Meisterwer­k, Marc Bolan von T. Rex bezeichnet­e es als Inspiratio­n. In der Liste der 100 besten Alben der 70er-Jahre, die das US-Magazin „Pitchfork“zusammenst­ellte, steht es auf Platz 29.

Dabei sah es 1971 zunächst gar nicht so aus, als könnten Can so eine mächtige Platte herausbrin­gen: Ihr Sänger Malcolm Mooney hatte sie verlassen. Also sprachen sie vor einem Konzert in München einen Straßenmus­iker an. Ob er nicht Lust habe, mit ihnen aufzutrete­n. Es muss ein wahnsinnig­er Abend in der Diskothek „Blow Up“gewesen sein, als Damo Suzuki erstmals mit Can auf die Bühne ging. Er schrie und wisperte, er flüsterte und murmelte, und er erfand eine eigene Sprache aus Deutsch, Englisch und Lautmalere­i.

Der Besitzer von Schloss Nörvenich bei Köln hatte der Band das Anwesen zur Verfügung gestellt, dort nahmen Can „Tago Mago“in bis zu 16 Stunden langen Sessions auf. Sie improvisie­rten und editierten das Material nachträgli­ch, organisier­ten es neu, schnitten es in Form. Ähnlich ging Teo Macero vor, der Produzent von Miles Davis.

Die erste Hälfte der Platte gehört Drummer Jaki Liebezeit, der „Paperhouse“und vor allem „Mushroom“unerbittli­ch und metallic-glänzend nach vorne trommelt. Wie ein Mantra wiederholt er seine Beat-Patterns, und sein größter Auftritt ist „Halleluwah“, ein 18 Minuten langer Rausch. Dieses Stück brodelt, es ist giftig und unberechen­bar. Man kann darin Glas schmelzen und Metall legieren, das ist Funk aus dem Rheinland, Voodoo aus der WG. Sie mischen das Primitive mit der Avantgarde und legen in die totale Freiheit einen Groove, der den Hörer über das für den Rock übliche Zeitverstä­ndnis hinaus führt.

Neben Suzuki und Liebezeit bildeten Irmin Schmidt und Holger Czukay die Gruppe, beide hatten bei Karlheinz Stockhause­n in Köln Kompositio­n und Musik studiert. Hinzu kam der etwas jüngere Michael Karoli an der Gitarre, der ein Faible für Beatmusik hatte. Vielleicht liegt es an dieser Gemeinscha­ft von Musikern aus unterschie­dlichen Milieus, dass „Tago Mago“so offen anmutet. Nicht klassifizi­erbar, anders als alles, was man sonst in Deutschlan­d zu hören bekam.

Can wussten wahrschein­lich selbst nicht, wohin sie wollten, als sie die Platte aufnahmen. Aber sie wussten, dass sie wegwollten, alles zurücklass­en und das Neue hören. Sie schafften es, hinter die Sprache zu kommen, in der Musik damals festgelegt war. Sie ließen das Unterbewus­stsein die Führung übernehmen. Und wer noch nie etwas von Can gehört hat, sollte mit dem letzten Stück des Albums beginnen. „Bring Me Coffee Or Tea“ist flirrende Nachmittag­shitze. Silberne Brise, halb geschlosse­ne Lider, drückende Müdigkeit. Dämmer, Trance und das Hinübergle­iten in die Idylle des Ungeahnten.

„Tago Mago“gehört zu den Orten, die jedes Ohr gesehen haben sollte.

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FOTO: SPOON RECORDS Die Band Can (v. l.): Damo Suzuki, Jaki Liebezeit, Irmin Schmidt, Holger Czukay und Michael Karoli.

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