Sie waren keine Fremden
Vor einem Jahr tötete Tobias Rathjen in Hanau aus rassistischen Motiven neun Menschen. Danach erschoss er seine Mutter und sich. Die Angehörigen der Opfer geben Polizei und Politik eine Mitschuld.
HANAU Newroz Duman hat Mühe, alle abgebrannten Grablichter auf einmal zu fassen. Ein halbes Dutzend der roten Gläser, die am Sockel des Hanauer Brüder-Grimm-Denkmals stehen, stapelt die junge Frau gekonnt auf ihre Arme. Sie blickt auf die Fotos der acht Männer und der einen Frau, unter denen geschrieben steht: „Die Opfer waren keine Fremden.“Duman hat ihr Handy zwischen Ohr und Schulter geklemmt, telefoniert. „Nein, der Jahrestag ist erst am nächsten Freitag, aber die Leute sollen ruhig Präsenz zeigen.“Dann macht die Traumapädagogin sich auf den Weg zum Heumarkt. Dorthin, wo der Hanauer Tobias Rathjen am späten Abend des 19. Februar 2020 seinen Mordzug begann – und wo Duman den Hinterbliebenen der Opfer Tag für Tag hilft, mit ihrer Trauer und Wut fertig zu werden.
Der 43-jährige Rathjen erschoss in jener Nacht aus rassistischen Motiven neun Menschen, anschließend seine Mutter und sich selbst. In der Hanauer Innenstadt, vor einer Shishabar, eröffnete er das Feuer, tötete Sedat Gürbüz, Koljan Welkow und Fatih Saracoglu. Mit dem Auto floh er anschließend zweieinhalb Kilometer weit in die Weststadt, wo er zunächst Vili Viorel Paun erschoss, der ihm mit seinem Auto gefolgt war und versucht hatte, Rathjen zu stoppen. In einem Kiosk und einer benachbarten Bar ermordete Rathjen Gökhan Gültekin, Hamza Kurtovic, Ferhat Unvar, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz und verletzte fünf weitere Menschen schwer, bevor er ein paar Hundert Meter weiter, in der Wohnung, die er mit seinen Eltern teilte, erst seine Mutter und dann sich selbst tötete.
Hätte dieses Verbrechen verhindert werden können? Das ist die wohl wichtigste von unzähligen Fragen, auf die die Hinterbliebenen der Opfer auch ein Jahr später noch Antworten suchen. Die Bundesanwaltschaft leitet im Fall Hanau die Ermittlungen. Wie lange diese noch dauern werden, ist ungewiss. Da der Täter tot ist, gibt es keinen Gerichtsprozess.
Medienrecherchen ergaben, dass die Notrufleitstelle in Hanau in der Tatnacht unterbesetzt war, aber eine Rufumleitung nicht vorgesehen. Zeugen und auch spätere Opfer, die 110 wählten, kamen nicht durch. Vili Viorel Paun versuchte es viermal, bevor er erschossen wurde. Ein Polizist in der Notrufleitstelle hätte dem gebürtigen Rumänen wohl geraten, den Täter nicht zu verfolgen, und damit sein Leben gerettet.
Zur Aufklärung des rechtsterroristischen Anschlags und zur gemeinsamen Trauer haben die Angehörigen und zahlreiche Unterstützer die Initiative „19. Februar Hanau“gegründet. Am Heumarkt, in Sichtweite des ersten Tatorts, haben sie ein zuvor leerstehendes Ladengeschäft gemietet. „Saytheirnames“(Sag ihre Namen) steht in blauer Leuchtschrift an der Fassade. Drinnen gibt es Sofas mit rotem Samtbezug und Tee. An den Wänden hängen Fotos der Ermordeten, auf dem Boden liegen Stapel von Plakaten, auf einem steht „Hanau ist überall“.
Neben Serpil Unvar steht ein Schwarzweißbild ihres Sohnes Ferhat, ein junger Mann mit Schiebermütze. „Warum musste mein Kind sterben?“, fragt sie mit leiser Stimme. Und liefert die Antworten gleich mit: „Weil er keine blonden Haare und keine blauen Augen hatte und ein psychisch kranker Rechtsextremist legal eine Waffe besitzen durfte.“Ihr Sohn sei in Deutschland geboren, habe einen deutschen Pass, das Gymnasium besucht, Dostojewski gelesen und Gedichte geschrieben. Trotzdem habe er immer wieder Rassismus zu spüren bekommen. Serpil Unvar hat darum nach dem 19. Februar eine antirassistische Bildungsinitiative gegründet. „Wir müssen etwas tun, denn es gibt Hunderte wie Tobias“, sagt sie.
Vieles von dem, was die 45-Jährige über den Mörder ihres Sohnes weiß, stammt aus einem Gutachten des forensischen Psychiaters Henning Saß im Auftrag der Bundesanwaltschaft. Der Attentäter von Hanau litt demnach unter einer paranoiden Schizophrenie, einem Verfolgungswahn, wurde einmal in die geschlossene Psychiatrie eingeliefert. Als Sportschütze besaß er gleich mehrere Waffen. Seine rechtsradikale Gesinnung gab Rathjen in mehreren Strafanzeigen bei der Polizei zu erkennen. Genauso wie in einem 24-seitigen Manifest, das er in den Tagen vor dem Anschlag auf seiner Internetseite veröffentlichte.
„Für die Hinterbliebenen der Opfer ist es wichtig, dass dieser rechtsterroristische Anschlag aufgeklärt wird“, sagt Newroz Duman. Sie ist in Hanau aufgewachsen, engagiert sich seit vielen Jahren bundesweit gegen Rechtsextremismus, kannte keines der Hanauer Opfer persönlich. In der Initiative „19. Februar Hanau“ist die 31-Jährige dennoch das Rückgrat, die Planerin und die Stimme, die auch dann noch zu hören ist, wenn den anderen die Kraft fehlt. „Was vor dem Anschlag und danach in den Behörden und bei der Polizei schiefgelaufen ist, muss Konsequenzen haben, damit diese vielen Menschen nicht umsonst gestorben sind“, sagt Duman.
Wegen der zeitgeschichtlichen Tragweite des Falls haben wir uns entschieden, den vollen Namen des Täters zu nennen. Die Redaktion