Wenn die Herren Platz nehmen
Männer setzen sich breitbeinig in die S-Bahn oder beanspruchen in Talkrunden mehr Raum als Frauen. Das hat mit gesellschaftlichen Erwartungen zu tun und mit Erziehung – auch in Familien, die sich als fortschrittlich verstehen.
Manche Männer merken nicht mal, wie sie sich breitmachen. Sie setzen sich in die Bahn, stellen die Füße weit auseinander, lassen die Beine ins gemütliche V fallen und sehen seelenruhig zu, wie andere sich neben sie quetschen müssen, weil sie so viel Platz beanspruchen. Auch in der medialen Öffentlichkeit, in Talkrunden etwa, kann man dieses Verhalten beobachten, wenn männliche Gäste mit weit geöffneten Beinen schon mal optisch signalisieren, dass sie möglichst viel Raum einnehmen wollen. Von Frauen sieht man das selten. Sie schlagen lieber artig die Beine übereinander und hoffen, sich mit dem durchzusetzen, was sie zu sagen haben. Dabei haben sie den Kampf der Körpersprachen schon verloren.
Das breitbeinige Auftreten von Männern hat Tradition. Aber neuerdings gibt es Frauen, die es nicht länger hinnehmen wollen. Sie protestieren gegen das „Manspreading“. Die Kombination aus „man“(Mann) und „spreading“(spreizen) prangert dabei nicht so sehr die unschickliche Sitzweise an als die Selbstverständlichkeit, mit der manche Männer sich raumgreifend bewegen.
Doch woher kommt dieses Verhalten? Im Alter von etwa fünf Jahren merken Kinder, was Männlich- und Weiblichsein in unserer Gesellschaft bedeutet. „Es ist ihnen natürlich nicht vollkommen bewusst, aber sie nehmen Unterschiede in ihrer Umgebung wahr und richten ihr eigenes Verhalten daran aus“, sagt die Sportwissenschaftlerin Ina Hunger, Professorin an der Universität Göttingen, die sich mit der Sozialisation von Bewegung beschäftigt. Mädchen fingen dann vielfach an, sich beim raumgreifenden Toben zurückzuhalten, Jungs probierten Dominanzgesten oder wildes Herumspringen.
Das sei nicht biologisch bedingt, sagt Hunger, sondern laufe vor allem über soziale Erwartungen. Jungs bekommen in erster Linie Anerkennung, wenn sie sich präsent zeigen, sich Raum nehmen, während Mädchen mehr Bestätigung erfahren, wenn sie sich schön zeigen und gefällige Sachen machen. Mädchen stecken sich dann gerne Klämmerchen ins Haar, tanzen und zaubern wie Lillifee, während Jungs imaginierte Lichtschwerter auspacken und herumtoben wie Spiderman. „Das beobachten wir nicht bei allen Kindern, aber es ist typisch – im Sinne von: gesellschaftlich naheliegend“, sagt Ina Hunger.
Dieser früh erlernte Körperhabitus hat Auswirkungen darauf, wie sich Männer und Frauen später bewegen. „Männer haben dann verinnerlicht, dass ihnen ein gewisser Platz zusteht und dass sie nicht überlegen müssen, wie sie auf andere wirken“, sagt Hunger. Männer nähmen sich, Frauen hätten oft ein Selbstverständnis ausgebildet, dass sie tendenziell mit weniger zufrieden sein können.
Doch das ändert sich. Zwei Kunststudentinnen aus Berlin haben ihren Protest gegen männliches Sitzgehabe nun in Mode verwandelt. Sie vertreiben Hosen mit provokanten Sprüchen auf dem inneren Saum. Öffnen die Trägerinnen die Beine, steht da „Stop spreading“oder „Give us space“in Weiß, also „Stop das Spreizen“oder „Gebt uns Raum“. Frauen können auch eigene Lieblingshosen einschicken und bedrucken lassen. „Riot Pants“nennen sie ihr Projekt, mit Hosen den Aufstand zu wagen.
Sportwissenschaftlerin Ina Hunger glaubt, dass die Motive für Manspreading unterschiedlich sind. Manche Männer setzten das breitbeinige Gehabe als Dominanzgeste womöglich gezielt ein. Andere machten es unbewusst und fielen aus allen Wolken, wenn man sie darauf anspreche. Darum sei auch schwer zu beurteilen, wie viel Taktik dahintersteckt,
Ina Hunger Sportwissenschaftlerin wenn Männer breitbeinig Platz nehmen, während Frauen artig ihre Füße engstellen. Nehmen Frauen mehr Raum auf ihrem Stuhl ein oder fläzen sich auch mal ungeniert, brechen sie mit den sozialen Erwartungen.
Sich so zu bewegen und zu verhalten, wie es geschlechtsspezifisch erwartet ist, wird Menschen von klein auf anerzogen. „Das beobachten wir in allen Milieus“, sagt Ina Hunger. Gerade Eltern mit akademischen Abschlüssen wiesen das allerdings oft von sich. In der Realität geschehe es aber doch, dass zum Beispiel der Sohn zum kämpferischen Überbieten ermuntert wird und das Mädchen zu kooperativen Spielen oder der Sohn zum Geburtstag den Fußball geschenkt bekommt, das Mädchen das Springseilchen. „Beides ist erst mal gut, weil es Kinder dazu bringt, sich zu bewegen, aber die unterschiedlichen Sportgeräte legen unterschiedliches Verhalten nahe“, sagt Hunger: hier raumgreifende Aktionen und körperliches Dominieren, dort Kooperation und Abstimmung auf andere. Man übt in der Bewegung also auch geschlechtsbezogene Verhaltensmuster ein.
Gerade weil Eltern heute annehmen, sie hätten die Geschlechterfrage überwunden, stabilisieren sie geschlechtsspezifisches Verhalten unbewusst. „Da müssen wir die eigenen blinden Flecken überwinden“, sagt Hunger. Bei Mädchen sei es leichter, eine solche Festlegung zu überwinden. Dass sie rumtobten wie Superman, sei eher akzeptiert. Denn das sei eine Identifikation mit dem Stärkeren. Dass Jungs tanzten wie Prinzessin Lillifee, sei dagegen selten, denn das würde bedeuten, dass sie in die vermeintlich schwächere Rolle schlüpften. „Davor schrecken viele Eltern zurück und lassen ihren Sohn doch lieber ein bisschen Fußballspielen lernen, damit er bei den Gleichaltrigen besteht“, sagt Hunger. Die Gefahr, dass ihr Kind ausgelacht werde oder in der Gruppe nicht mithalte, sei den Eltern das politische Projekt Gleichberechtigung am Ende doch nicht wert.
„Wir müssen die eigenen blinden Flecken überwinden“