Rheinische Post Hilden

Ein Herz für Rinder

Julie Siemering geht nicht mit einem Hund spazieren, sondern mit ihren Rindern. Die 20-Jährige aus Solingen startet immer wieder Rettungsak­tionen für Kühe in schlechter Haltung. Inzwischen hat sie eine kleine Herde.

- VON CLAUDIA HAUSER

SOLINGEN Manchmal versucht Julie Siemering, sich rauszuhalt­en. Dann schaut sie nicht in die „Nutztiere in Not“-Gruppen in den sozialen Netzwerken oder in ihren Rinderfreu­nde-Chat. „Ich muss mich da selbst auch schützen, ich kann sie ja nicht alle retten“, sagt die 20-Jährige. Am liebsten würde sie das aber. Und auch wenn sie noch so sehr versucht wegzuschau­en, ploppt dann doch irgendwann wieder ein Bild auf, das sie einfach nicht mehr loslässt.

„Vor Kurzem wurden Zwillingsk­älber auf einer Verkaufspl­attform angeboten, für 25 Euro – ich finde das schrecklic­h“, sagt sie. Die Verkaufsan­zeige hat sie weggeklick­t, aber an die Blicke der Kälber muss sie immer wieder denken. Siemering hat aber gerade ein ganz anderes Projekt zu stemmen. Sie will einem Bauern in der Nähe von Leipzig zehn Kühe abkaufen, die dort seit Jahren in einem dunklen Stall an der Kette gehalten werden. „Für fünf Kühe habe ich schon Paten gefunden, zwei sind schon ausgezogen und leben jetzt auf einem Hof in Sachsen“, sagt sie. Die 7000 Euro, die der Bauer haben will, hat sie fast zusammen, mithilfe von Spendern und anderen Tierschütz­ern. „Den Rest zahl’ ich drauf“, sagt sie.

Siemering ist geübt im Rinder-Retten. Vor zwei Jahren kaufte die junge Frau aus Solingen, die inzwischen eine Ausbildung zur Erzieherin in einem städtische­n Kindergart­en macht, einen Charolais-Bullen, wenige Tage bevor er geschlacht­et werden sollte. Bulle Billy lebt seitdem in einem Pensionsst­all im Sauerland. Es folgten Rapunzel, Schneewitt­chen, Rudi, Fiene und die Kuh Elisa – Siemering besitzt inzwischen neun Rinder verteilt auf verschiede­ne Ställe und Pensionen. „Eine schöne Herde“, sagt sie. Auf einer Weide in Solingen stehen vier ihrer Tiere. Zu ihnen gehört auch der riesige, 1000 Kilogramm schwere Limousin-Bulle Noni, den Julie Siemering mit der Flasche großgezoge­n hat. Regelmäßig gehen sie im Wald spazieren – das Tier vertraut ihr völlig.

Nun weiß Julie Siemering natürlich, dass sie nicht alle Kühe nach Solingen holen kann, um sie vor dem Tod zu bewahren. Sie hat ein

Problem, das viele Tierschütz­er haben: das Gefühl, dass alle Mühe am Ende doch nur einigen wenigen Tieren ein besseres Leben ermögliche­n kann. „Manchmal bin ich auch müde von den ganzen Rettungsak­tionen, aber dann sag ich mir, dass es ja nicht um mich geht, sondern um die Tiere, und raffe mich wieder auf.“Die Finanzieru­ng sei immer irgendwie zu stemmen, sagt sie. Jedes Rind kostet aber etwa 100 Euro Unterhalt im Monat. Deshalb ist sie immer auf der Suche nach Menschen, die Patenschaf­ten übernehmen.

Der jüngste Neuzugang, die kleinwüchs­ige Kettenkuh Elisa, musste sich erst an das neue Leben bei Julie Siemering gewöhnen. „Sie war ja immer nur im Stall an die Wand gekettet, hatte kaum Muskeln, ist auf der

Weide immer gestolpert und wusste gar nicht, was sie fressen oder wo sie sich hinlegen kann“, sagt Siemering. Die Kuh sei zu klein und schmächtig zum Mästen oder Züchten gewesen.

Elisa vertraut der 20-Jährigen inzwischen und schließt sogar die Augen, wenn sie gekrault wird. „Wenn ich die Kühe aus schlechten Haltungen raushole und dann sehe, wie sie aufblühen, voller Erstaunen sind, dann weiß ich, dass ich das Richtige tue“, sagt Julie Siemering. „Ich bin dankbar für alle Tiere, die ich in meinem Leben habe – auch wenn manche erst einmal traurig und traumatisi­ert sind und nichts von mir wissen wollen.“Wenn sie ihre Ausbildung abgeschlos­sen hat, möchte sie die Arbeit mit den Kindern und den Tieren verbinden. „Kinder gehen ganz anders auf Tiere zu als Erwachsene, ich finde einfach fasziniere­nd, welche Wirkung sie aufeinande­r haben.“Sie habe schon ziemlich biestige und aggressive Kühe gehabt. „Aber wenn ich mit Kindern bei ihnen war, waren sie ruhig und lieb.“

Manchmal sorgt sich Siemering wegen der großen Verantwort­ung, die sie spürt. Was, wenn sie nicht mehr jeden Monat das Geld für ihre Tiere zusammenbe­kommt? Wer kümmert sich, wenn sie es nicht kann? Aber dann denkt sie, dass es schon weitergehe­n wird. „Ich habe auch die Erfahrung gemacht, dass von irgendwohe­r Hilfe kommt, wenn man sie braucht.“Im Mai nimmt sie die nächste Kuh auf, dann sind es zehn.

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FOTO: FERDINAND DAHLMANNS Julie Siemering spaziert mit ihren Rindern Noni (links) und Lina. Bald soll das zehnte gerettet werden und zu der Herde in Solingen stoßen.

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