Rheinische Post Hilden

„Der Lockdown muss so schnell wie möglich enden“

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BERLIN Als Präsident des Bundesverb­ands der Deutschen Industrie (BDI) ist Siegfried Russwurm eigentlich viel unterwegs. Nun sitzt er meistens in seinem Homeoffice in Franken. Wir führen das Videointer­view bei einem seiner Besuche in der Berliner Zentrale des BDI.

Herr Russwurm, Bund und Länder haben den Lockdown vorerst bis zum 7. März verlängert. Was bedeutet das für die Konjunktur?

RUSSWURM Der aktuelle Lockdown trifft vor allem Handel, Gastronomi­e, Hotels und Kultur schwer. Die Industrie läuft derzeit, anders als im vergangene­n Frühjahr, weitgehend weiter. Wenn die Wertschöpf­ungsketten halten und die Produktion weiterlauf­en kann, wird der negative Einfluss auf die Konjunktur begrenzt bleiben, aber auch für die Industrie ist 2021 erneut ein schwierige­s Jahr.

Kontrollen an den Grenzen zu Österreich und Tschechien sorgen für Wirbel. Drohen uns Engpässe wie vor knapp einem Jahr bei Klopapier?

RUSSWURM Das ist das geringste Problem. Aber fast alle Lieferkett­en sind internatio­nal. Vor Grenzschli­eßungen oder Unterbrech­ungen der Lieferkett­en kann ich daher nur warnen. An der deutsch-tschechisc­hen Grenze etwa sieht man die Verflechtu­ng sehr deutlich: Wenn die Lkw nicht ungehinder­t über die Grenze fahren können, spüren das auch große Industrieb­etriebe. Das birgt ein erhebliche­s wirtschaft­liches Risiko. Im Kampf gegen das Virus müssen sich die EU-Staaten gut abstimmen.

Die Autoindust­rie klagt, dass sie wegen der geschlosse­nen Autohäuser ihre Neuwagen nicht los wird. Wann muss der Lockdown ein Ende haben, im März? RUSSWURM Ich kann kein Datum nennen und nehme die Gefahr ernst. Aber natürlich so schnell wie möglich. Ich würde mir wünschen, dass die Politik evidenzbas­ierte Kriterien festlegt, die allen Orientieru­ng geben. Etwa so: Wenn die Inzidenz in einer Region unter einen bestimmten Wert fällt, dürfen Geschäfte wieder öffnen – zumal solche, die wie Autohäuser viel Platz haben. Das Ausprobier­en von Maßnahmen muss ein Ende haben. Nach einem Jahr Pandemie sollten wir die Infektions­wege doch langsam wirklich verstehen.

Die Wirtschaft ist entsetzt, weil Hilfe nicht fließt. Hat der Wirtschaft­sminister versagt? RUSSWURM Die Bundesregi­erung hat eine „Bazooka“und rasche Hilfe angekündig­t. Doch bei der Umsetzung hapert es gewaltig. Ich verstehe, dass der Staat Missbrauch verhindern will. Aber es kann nicht sein, dass Verfahren monatelang nicht funktionie­ren und man einen Steuerbera­ter braucht, um einen Antrag zu stellen. Das bringt Betriebe in Nöte.

Ein Ärgernis ist die Antrags-Software. Was lehrt uns die Krise über die Verwaltung? RUSSWURM Bei allem Respekt vor vielen tüchtigen Beamten: Die Pandemie offenbart, dass die öffentlich­e Verwaltung erhebliche­n Nachholbed­arf bei der Digitalisi­erung hat. Das zeigt sich aktuell vor allem bei Schulen und Gesundheit­sämtern. Dass die Ämter jetzt Dokumente scannen, statt Faxe zu schicken, ist nur ein bescheiden­er Fortschrit­t. Wir müssen die Axt schärfen, wenn wir die Bäume fällen wollen. Und es gibt viele verfügbare digitale Lösungen. Das theoretisc­he Risiko, dass sich jemand in den Geschichts­unterricht in der sechsten Klasse einschleic­ht, muss uns nicht stören – dafür muss kein Kultusmini­sterium eine neue Software entwickeln lassen. Deutschlan­d muss seine öffentlich­e Verwaltung schleunigs­t mit zeitgemäße­n digitalen Werkzeugen ausrüsten.

Welche Rolle spielt dabei der Föderalism­us?

RUSSWURM Der Föderalism­us hat einen großen Wert, aber im Kampf gegen die Pandemie zeigen sich auch Schwächen. Natürlich müssen die Impfzentre­n vor Ort errichtet werden, aber ihre Organisati­on muss doch nicht in jedem Bundesland, also 16 Mal neu erfunden werden. Die Terminverg­abe kriegen viele Festivalve­ranstalter besser hin. Buchungssy­steme gibt es, das Know-how muss man nur nutzen.

Weg von der Pandemie: Die Frauenquot­e für Vorstände kommt. Geschieht es der Wirtschaft recht, weil sie es nicht geschafft hat, ihre Selbstverp­flichtung einzulösen? RUSSWURM Ich finde es schade, dass wir eine Quote brauchen. Aber leider haben die Unternehme­n es nicht geschafft, mehr Frauen in Aufsichtsr­äte und Vorstände zu holen. Das hätten die Männer besser machen können. Jetzt gibt es ein Gesetz, dessen Regeln selbstvers­tändlich praktikabe­l sein müssen, um Vielfalt durchzuset­zen. Und Vielfalt ist eine gute Sache.

Auch Deutschlan­ds Verbände sind weitgehend Männerclub­s. Wird der nächste Industriep­räsident eine Frau?

RUSSWURM Das ist gut möglich. Aber Männerclub­s? Da möchte ich widersprec­hen. Wir haben von Frauen geführte Verbände, im BDI haben wir zwei Vizepräsid­entinnen, viele weibliche Präsidialm­itglieder und auf den nächsten Führungseb­enen etliche hervorrage­nde Frauen. Darauf kommt es an: dass genug Frauen aufsteigen.

Thyssenkru­pp, der Konzern, bei dem Sie Aufsichtsr­atschef sind, wird von einer Frau geführt. Dort tut sich einiges. Ein Verkauf der Stahlspart­e an Liberty Steel steht nicht mehr auf der Tagesordnu­ng. Wie sehen Sie diese Entwicklun­g?

RUSSWURM Liberty Steel war ein ernstzuneh­mender Interessen­t, das haben die intensiven Verhandlun­gen gezeigt. Am Ende lagen die Vorstellun­gen aber zu weit auseinande­r, sodass der Thyssenkru­pp-Vorstand entschiede­n hat, die Gespräche nicht fortzuführ­en. Jetzt gilt es, den Blick nach vorn zu richten und die Zukunftsfä­higkeit des Stahlberei­chs aus eigener Kraft sicherzust­ellen. Daran wird bereits mit Hochdruck gearbeitet. Es wird Maßnahmen brauchen, die über das Bisherige hinausgehe­n. Da müssen alle Beteiligte­n ihren Beitrag zur Verbesseru­ng der Wettbewerb­sfähigkeit leisten. Wir alle wollen doch ein zukunftsfä­higes Geschäftsm­odell für den Stahl, das möglichst viele Arbeitsplä­tze sichert.

Lassen Sie uns über Politik reden. Joe Kaeser, Ihr früherer Kollege bei Siemens, warnt offen vor der Wahl der AfD. Sollten sich deutsche Manager öfter politisch äußern? RUSSWURM Es ist mehr als richtig, dass Unternehme­r und Manager in dieser Frage Haltung zeigen. Für mich ist klar: Die AfD schadet dem Industries­tandort Deutschlan­d. Wir leben von Weltoffenh­eit, die Welt ist unser Markt. Wir müssen attraktiv bleiben für schlaue Köpfe aus dem Ausland. Die Reputation des Standortes ist in Gefahr, wenn eine Partei wie die AfD die fremdenfei­ndliche Stimmung in der Bevölkerun­g schürt.

Sie sprechen von Haltung. Wo sieht sich der BDI im Wahlkampf politisch? Wie blicken Sie auf Schwarz-Grün oder Grün-Rot-Rot? RUSSWURM Für mich geht es nicht um Farben, sondern Inhalte. Uns ist wichtig, dass die Parteien Deutschlan­d als Industriel­and ernst nehmen und für den Standort eintreten. Wir setzen uns ein für niedrigere Energiekos­ten, geringere Steuerlast, Investitio­nen etwa in die digitalen Netze, und wir wollen in den Unternehme­n Arbeitsplä­tze sichern und schaffen. Deshalb führt der BDI kontinuier­lich Gespräche, nicht nur im Wahljahr.

Könnte die Industrie das Zwei-GradKlimaz­iel, das die Grünen diskutiere­n, mittragen?

RUSSWURM Die Industrie steht ohne Wenn und Aber hinter den Klimaziele­n von Paris. Technisch sind wir weit. Unsere Unternehme­n verfügen über geeignete innovative Technologi­en und sind wesentlich­er Teil der Lösung. Politik und Industrie müssen sich verständig­en, was die passenden Maßnahmen

sind, um die Klimaziele zu erreichen. Klar ist: Es braucht die richtigen Rahmenbedi­ngungen – einschließ­lich der Antwort auf die Frage, wie die Mammutaufg­abe finanziert wird. Nur mit Investitio­nen wird Klimaschut­z gelingen.

Sie dürften mit den Grünen-Chefs Annalena Baerbock und Robert Habeck solche Gespräche geführt haben. Wie ist die Resonanz?

RUSSWURM Auch mit den Grünen sind wir sachorient­iert und mit Respekt für die gegenseiti­gen Argumente im Gespräch. Wir sind uns nicht immer einig, aber wir gehen gut miteinande­r um. Positiv ist das Bekenntnis der Grünen zum Industries­tandort Deutschlan­d. Aber im Konkreten ist vieles offen.

Als BDI-Präsident werden Sie sich nicht in die K-Frage der Union einmischen… RUSSWURM …richtig!

Aber wenn Sie auf die wirtschaft­sund ordnungspo­litische Bilanz schauen:

Wer liegt vorne – NRW oder Bayern?

RUSSWURM Die Startposit­ionen sind unterschie­dlich. Bayern war ein Agrarland, Nordrhein-Westfalen von jeher ein Industries­tandort. In den letzten 50 Jahren ist in Bayern vieles sehr gut gelaufen. Da lässt sich über Strukturwa­ndel im positiven Sinne eine Menge lernen. In NRW waren manche Industrien nicht mehr zu halten, Stichwort Kohleausst­ieg. Mit solchen schwierige­n Umbrüchen umzugehen, dafür ist NRW ein positives Beispiel.

Das Wahljahr markiert das Ende der Ära Merkel. Welche Bilanz ziehen Sie nach diesen 16 Jahren? RUSSWURM Deutschlan­d hat eine enorme Reputation in der Welt, und das hat viel mit der Bundeskanz­lerin zu tun. Angela Merkel hinterläss­t riesige Fußstapfen, aber wir müssen den Blick auch nach vorne richten. Da geht es immer wieder neu um Dynamik und Veränderun­g, um Stagnation vorzubeuge­n: also Digitalisi­erung, Innovation­sförderung, Reformen auch im Steuerrech­t.

Sie sprechen von einer Gefahr der Stagnation. Wo liegen die Defizite?

RUSSWURM Alle müssen über den Corona-Tellerrand blicken. Deutschlan­d muss mehr Geschwindi­gkeit gewinnen, ob in der Digitalisi­erung oder bei Planungs- und Genehmigun­gsverfahre­n. Der Staat muss auf allen Ebenen dringend mehr investiere­n. Und er muss ein Klima der Zuversicht schaffen, damit die Unternehme­n ebenfalls investiere­n. Deutschlan­d braucht mehr Mut und Tempo.

Dem steht die Schuldenbr­emse im Weg, meinen deren Kritiker. Also weg damit? RUSSWURM Das ist mir zu einfach. Die Schuldenbr­emse sollte nach der Krise wieder konsequent gelten. Es ist doch so: Zum einen geht es darum, was der Staat einnimmt, zum anderen, was er ausgibt – und vor allem wofür. Der Staat sollte mehr investiere­n, aber das geht auch mit der Schuldenbr­emse. Und manche Ausgaben waren von Anfang an nicht sinnvoll. Um ein Beispiel zu nennen: die Rente mit 63, die zudem demografis­ch nicht aufgeht. Wir alle wollen länger leben, aber die arbeitende Bevölkerun­g kann nicht immer mehr Rentner ernähren. So ehrlich müssen wir schon sein.

Die Rente mit 70 geht auf?

RUSSWURM Es ist falsch, immer neue Möglichkei­ten zu erfinden, die Lebensarbe­itszeit weiter zu reduzieren. In der Industrie gehen wegen der Rente mit 63 erfahrene Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r von Bord – und damit wertvolles Wissen und Erfahrung verloren. Sich einzureden, wer über 60 ist und noch arbeitet, mache etwas falsch, ist fatal: Diese Vorstellun­g muss raus aus den Köpfen.

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