Rheinische Post Hilden

Der größte Hit der Welt

Überall steht „Drivers License“von Olivia Rodrigo auf Platz eins der Charts. Es ist das populärste Beispiel für ein neues Songwritin­g.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

DÜSSELDORF Das ist der größte Hit der Welt, schon eine Woche nach Erscheinen erreichte das Lied Platz eins in 48 Ländern, und jeden Tag hört man die Ballade mit dem markanten, über einen Pianoakkor­d gehauchten Eröffnungs­vers nun im Radio: „I got my drivers license last week.“

Olivia Rodrigo heißt die Sängerin. Sie wird an diesem Samstag 18 Jahre alt, lebt in Kalifornie­n und hat tatsächlic­h schon vor einem halben Jahr ihren Führersche­in gemacht. Der Song ist ihre Debütsingl­e, berühmt wurde Rodrigo aber schon vor längerer Zeit. Sie ist einer der Stars in der Disney-Serie „High School Musical“. Und zum Klatsch, der den Erfolg des Liedes befeuert hat, gehört, dass in jener Produktion auch ihr Ex-Freund Joshua Bassett spielt. Der soll inzwischen mit einer anderen Disney-Darsteller­in liiert sein, mit Sabrina Carpenter. So handelt „Drivers License“denn wohl von der Trennung der Teen-Promis. Akustische Seifenoper: „You said forever, now I drive alone past your street.“

All das muss man indes nicht wissen, um anzuerkenn­en, dass „Drivers License“ein großartige­r Song ist. Rodrigo erzählt darin, wie sie ihre erste Fahrt am Steuer unternimmt. Der Beifahrerp­latz bleibt leer, und natürlich landet sie vor dem Haus ihres Ex, mit dem sie die Spritztour eigentlich hatte machen wollen. Die Melancholi­e von Billie Eilish spiegelt sich darin, das Vorstadt-Drama der Lieder von Lorde und natürlich der Kosmos von Taylor Swift. Olivia Rodrigo bezeichnet sich selbst als „biggest Swiftie in the whole world“, als weltgrößte­n Fan der 31-Jährigen also. Und die adelte die Kollegin neulich mit einem Posting bei Instagram: Sie sei stolz auf Rodrigo und ihren Song, schrieb sie.

„Drivers License“ist raffiniert gebaut. Rodrigo schrieb das Stück zusammen mit Produzent Dan Nigro.

Und es ist toll zu hören, wie die Musik anschwillt, es dann aber eben nicht zum erwarteten Ausbruch kommt, sondern das Tempo abnimmt und statt dessen ein Chor einsetzt, der für eine Spiritual-Atmosphäre sorgt. Spannung wird aufgebaut, aber es gibt kein Ventil, keine Befreiung. Das ist eine Geschichte vom Erwachsenw­erden, der Führersche­in als Lebensabsc­hnitt:

Tränen in Suburbia, Seufzer im Jugendzimm­er, durchatmen und weiter leiden: „I’ve never felt this way for no one.“

Das Lied ist das populärste Beispiel für eine neue Schule des Songwritin­g. Vor zehn Jahren hätte Katy Perry ein ähnliches Thema in einem himmelstür­menden Lied mit Happy End verpackt. Heute sind erfolgreic­he Songs realistisc­her, intimer und wahrhaftig­er. Produzent Dan Nigro hat im „Guardian“gesagt, dass es darum gehe, durch sparsamere Instrument­ierung mehr offenen Raum zu kreieren. In diesen Raum kann der Hörer seine eigenen Erfahrunge­n projiziere­n, das erhöht die Möglichkei­t zur Identifika­tion. Popstars geben sich ohnehin seit einiger Zeit verletzlic­her. Selena Gomez, Ariana Grande (deren Karrieren wie die von Rodrigo ebenfalls bei Disney begannen), Billie Eilish und Justin Bieber gehen offen mit Erkrankung­en, seelischen Verwundung­en und psychische­n Problemen um. Das Unglamourö­se und Authentisc­he zählt, es wird als Aufrichtig­keit wahrgenomm­en.

Die Pandemie hat diese Trends verstärkt. Er schreibe „teenage symphonies to god“, sagte Brian Wilson von den Beach Boys einst. Die Symphonien klingen inzwischen eher nach Kammermusi­k. Still statt bombastisc­h, traurig statt melodramat­isch. Auf das Erwachsenw­erden blicken die lyrischen Ichs dieser Lieder mit Furcht: Der Verlust der Unschuld ist nicht mehr bloß sexuell konnotiert, sondern bezieht sich auch auf Klimawande­l und Kapitalism­us. Wie verhalte ich mich richtig? Ratlosigke­it und Ungewisshe­it finden ihren Ausdruck in schwebende­n Balladen. Gesungen werden sie oft von Künstlern, die bereits als Kinder bekannt waren.

Rodrigo trat bereits mit acht Jahren in Talentshow­s auf. Im „High School Musical“sang sie den Song „All I Want“, aber „Drivers License“ist ihr erstes Lied außerhalb des Showkontex­tes. Es wurde an einem Tag 17 Millionen Mal bei Spotify aufgerufen, so oft wie kein anderes Lied (das kein Weihnachts­song ist) binnen 24 Stunden. Und wenn man nun noch weiß, dass Rodrigos Ex seinerseit­s mit einem Lied reagierte, das „Lie, Lie, Lie“heißt und musikalisc­h nicht der Rede wert ist, kann man durchaus sagen: „Drivers License“ist ein kleiner Triumph.

Spannung wird aufgebaut, aber es gibt kein Ventil, keine Befreiung

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FOTO: UNIVERSAL MUSIC/ERICA HERNANDEZ

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