Der größte Hit der Welt
Überall steht „Drivers License“von Olivia Rodrigo auf Platz eins der Charts. Es ist das populärste Beispiel für ein neues Songwriting.
DÜSSELDORF Das ist der größte Hit der Welt, schon eine Woche nach Erscheinen erreichte das Lied Platz eins in 48 Ländern, und jeden Tag hört man die Ballade mit dem markanten, über einen Pianoakkord gehauchten Eröffnungsvers nun im Radio: „I got my drivers license last week.“
Olivia Rodrigo heißt die Sängerin. Sie wird an diesem Samstag 18 Jahre alt, lebt in Kalifornien und hat tatsächlich schon vor einem halben Jahr ihren Führerschein gemacht. Der Song ist ihre Debütsingle, berühmt wurde Rodrigo aber schon vor längerer Zeit. Sie ist einer der Stars in der Disney-Serie „High School Musical“. Und zum Klatsch, der den Erfolg des Liedes befeuert hat, gehört, dass in jener Produktion auch ihr Ex-Freund Joshua Bassett spielt. Der soll inzwischen mit einer anderen Disney-Darstellerin liiert sein, mit Sabrina Carpenter. So handelt „Drivers License“denn wohl von der Trennung der Teen-Promis. Akustische Seifenoper: „You said forever, now I drive alone past your street.“
All das muss man indes nicht wissen, um anzuerkennen, dass „Drivers License“ein großartiger Song ist. Rodrigo erzählt darin, wie sie ihre erste Fahrt am Steuer unternimmt. Der Beifahrerplatz bleibt leer, und natürlich landet sie vor dem Haus ihres Ex, mit dem sie die Spritztour eigentlich hatte machen wollen. Die Melancholie von Billie Eilish spiegelt sich darin, das Vorstadt-Drama der Lieder von Lorde und natürlich der Kosmos von Taylor Swift. Olivia Rodrigo bezeichnet sich selbst als „biggest Swiftie in the whole world“, als weltgrößten Fan der 31-Jährigen also. Und die adelte die Kollegin neulich mit einem Posting bei Instagram: Sie sei stolz auf Rodrigo und ihren Song, schrieb sie.
„Drivers License“ist raffiniert gebaut. Rodrigo schrieb das Stück zusammen mit Produzent Dan Nigro.
Und es ist toll zu hören, wie die Musik anschwillt, es dann aber eben nicht zum erwarteten Ausbruch kommt, sondern das Tempo abnimmt und statt dessen ein Chor einsetzt, der für eine Spiritual-Atmosphäre sorgt. Spannung wird aufgebaut, aber es gibt kein Ventil, keine Befreiung. Das ist eine Geschichte vom Erwachsenwerden, der Führerschein als Lebensabschnitt:
Tränen in Suburbia, Seufzer im Jugendzimmer, durchatmen und weiter leiden: „I’ve never felt this way for no one.“
Das Lied ist das populärste Beispiel für eine neue Schule des Songwriting. Vor zehn Jahren hätte Katy Perry ein ähnliches Thema in einem himmelstürmenden Lied mit Happy End verpackt. Heute sind erfolgreiche Songs realistischer, intimer und wahrhaftiger. Produzent Dan Nigro hat im „Guardian“gesagt, dass es darum gehe, durch sparsamere Instrumentierung mehr offenen Raum zu kreieren. In diesen Raum kann der Hörer seine eigenen Erfahrungen projizieren, das erhöht die Möglichkeit zur Identifikation. Popstars geben sich ohnehin seit einiger Zeit verletzlicher. Selena Gomez, Ariana Grande (deren Karrieren wie die von Rodrigo ebenfalls bei Disney begannen), Billie Eilish und Justin Bieber gehen offen mit Erkrankungen, seelischen Verwundungen und psychischen Problemen um. Das Unglamouröse und Authentische zählt, es wird als Aufrichtigkeit wahrgenommen.
Die Pandemie hat diese Trends verstärkt. Er schreibe „teenage symphonies to god“, sagte Brian Wilson von den Beach Boys einst. Die Symphonien klingen inzwischen eher nach Kammermusik. Still statt bombastisch, traurig statt melodramatisch. Auf das Erwachsenwerden blicken die lyrischen Ichs dieser Lieder mit Furcht: Der Verlust der Unschuld ist nicht mehr bloß sexuell konnotiert, sondern bezieht sich auch auf Klimawandel und Kapitalismus. Wie verhalte ich mich richtig? Ratlosigkeit und Ungewissheit finden ihren Ausdruck in schwebenden Balladen. Gesungen werden sie oft von Künstlern, die bereits als Kinder bekannt waren.
Rodrigo trat bereits mit acht Jahren in Talentshows auf. Im „High School Musical“sang sie den Song „All I Want“, aber „Drivers License“ist ihr erstes Lied außerhalb des Showkontextes. Es wurde an einem Tag 17 Millionen Mal bei Spotify aufgerufen, so oft wie kein anderes Lied (das kein Weihnachtssong ist) binnen 24 Stunden. Und wenn man nun noch weiß, dass Rodrigos Ex seinerseits mit einem Lied reagierte, das „Lie, Lie, Lie“heißt und musikalisch nicht der Rede wert ist, kann man durchaus sagen: „Drivers License“ist ein kleiner Triumph.
Spannung wird aufgebaut, aber es gibt kein Ventil, keine Befreiung