Rheinische Post Hilden

„Die Angst ist oft größer als die Not“

Der Teamleiter des Arbeitslos­enzentrums konzentrie­rt sich seit diesem Jahr auf ausbeuteri­sche Jobs.

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DÜSSELDORF Torsten Kerner (43) ist Teamleiter des Arbeitslos­enzentrums, das zur städtische­n Tochter Zukunftswe­rkstatt Düsseldorf gehört. Er berät mit seinem Team vom Konrad-Adenauer-Platz aus gratis Menschen mit existenzie­llen Sorgen, die etwa ihren Job verloren oder Geldsorgen haben. Seit Beginn des Jahres bildet er zudem mit einer neuen, fünften Mitarbeite­rin das Duo für die „Beratungss­telle Arbeit“, die jetzt vom Land an vielen Stellen in ganz Nordrhein-Westfalen eingeführt wurde. Wichtigste­s Ziel: Die Beratung von Menschen, die „unter Arbeitsaus­beutung zu leiden haben“, wie das Arbeitsmin­ister Karl-Josef Laumann formuliert­e.

Herr Kerner, Düsseldorf steht wirtschaft­lich gut da, die Menschen verdienen mehr als in anderen Städten. Das Schickimic­ki-Klischee ist weit verbreitet. Sie dürften durch Ihre tägliche Arbeit die Stadt anders wahrnehmen, oder?

TORSTEN KERNER Düsseldorf ist schon eine reiche Stadt, aber das Leben wird dadurch auch teurer. Für arme Menschen ist das ein Problem. Die gezahlte Grundsiche­rung ist ja in ganz Deutschlan­d die gleiche. Und damit lässt sich in Düsseldorf dann keine Wohnung mehr finden, die den eigenen Ansprüchen entspricht, vielmehr muss oft eine sehr schlechte Bausubstan­z in Kauf genommen werden. Das belastet viele Menschen sehr. Unser Klientel wohnt auch eher in wenig attraktive­n Lagen, Stadtteile­n mit vielen Sozialwohn­ungen und nicht innenstadt­nah. Mein Beruf bringt einen Blick hinter die Kulissen mit sich, ins Elend, das es auch in Düsseldorf gibt. Ich frage mich da manchmal schon, wofür Geld da ist, und wofür nicht. Ich verstehe zum Beispiel nicht, warum für bettelnde und drogenabhä­ngige Menschen am Hauptbahnh­of nicht mehr getan wird.

Ihre Arbeit hat jetzt einen neuen Schwerpunk­t, Menschen, die in ausbeuteri­schen Arbeitsver­hältnissen beschäftig­t sind. Auch nichts, was man direkt mit Düsseldorf in Verbindung bringt.

KERNER Für uns ist das Problem nicht neu. Es gibt auch in Düsseldorf schwarze Schafe, wo zum Beispiel ungelernte Beschäftig­te ausgebeute­t werden. Zum Beispiel in der Gastronomi­e, in Hotels oder bei Reinigungs­kräften.

Was ist mit Ausbeutung eigentlich genau gemeint?

KERNER Es gibt da viele Beispiele. Wenn etwa Kündigungs­regeln nicht eingehalte­n werden, der Mindestloh­n nicht gezahlt wird oder bei der Arbeitszei­t getrickst wird, etwa Stundenzet­tel hinterher vom Arbeitgebe­r angepasst werden.

Was wird jetzt genau anders? KERNER Die Pandemie hat das Bewusstsei­n für prekäre Arbeitsver­hältnisse geschärft, prominente­s Beispiel war die Fleischind­ustrie mit Tönnies. Das Land fördert auch deshalb jetzt die Beratung für die Betroffene­n, wir können so zum Beispiel eine weitere Kraft engagieren. Wir konzentrie­ren unsere Arbeit nun mehr auf dieses Problem. Wichtig ist dabei, die Betroffene­n erstmal zu erreichen, die oftmals zum Beispiel aus dem osteuropäi­schen

Raum kommen und kaum Deutsch sprechen.

Wie wollen Sie den Kontakt herstellen?

KERNER Wir tauschen uns zurzeit viel mit anderen Beratungss­tellen aus, aber auch mit Fifty-Fifty etwa, um mit unserem Angebot bekannt zu werden, aber auch um herauszufi­nden, wo prekäre Arbeitsver­hältnisse bestehen. Dann dürfen wir natürlich nicht einfach aufs Firmengelä­nde gehen. Es wird eher mal so sein, dass wir Handzettel auf dem Arbeitsweg verteilen, um zu hoffen, dass diese Menschen später zu uns kommen. Dafür müssen wir Orte

identifizi­eren, die in den betroffene­n Vierteln liegen, in Rath ist das etwa ein „i-Punkt Arbeit“gewesen.

Da ist wahrschein­lich viel Überzeugun­gsarbeit nötig, oder?

KERNER Ja, es geht um Menschen, die oft keine Rücklagen haben, die nicht versichert sind. Es ist existenzbe­drohend für sie, wenn sie ihren Job verlieren würden. Deshalb ist die Angst oft größer als die Not. Das heißt, Beschäftig­te scheuen den Konflikt mit dem Arbeitgebe­r. Wir versuchen dann eher, eine neue Arbeitsste­lle zu finden und auf diesem Weg zu beraten. Ansonsten suchen wir aber auch das Gespräch mit dem Arbeitgebe­r und schalten einen Anwalt ein, falls nötig. Aber dann brauchen die Betroffene­n meist einen langen Atem.

Welcher Fall ist Ihnen zuletzt begegnet?

KERNER Bei uns ist eine Frau in der Beratung, die bei einem Transportu­nternehmen beschäftig­t ist. Der Lohn wurde nicht wie vereinbart gezahlt. Sie spricht Spanisch und kaum Deutsch und weiß nicht, ob sie schon einen neuen Vertrag bei einem anderen Arbeitgebe­r unterschre­iben kann. Das ist nicht einfach, da der Arbeitgebe­r mauert. Wir haben zudem schriftlic­h zusammen die ausstehend­en Löhne geltend gemacht. Wenn das nicht innerhalb einer Frist passiert, gehen die Ansprüche verloren, das wissen viele gar nicht. Ich erinnere mich zudem an einen extremen Fall, wo eine Frau über mehrere Jahre in einem Haushalt als private Pflegekraf­t engagiert war. Sie hat zehn bis zwölf Stunden pro Tag gearbeitet, Wochenende­n und Urlaube wurden ihr immer wieder gestrichen, sie hat quasi durchgearb­eitet, was man ihr sehr angemerkt hat und wo viel Aufbauarbe­it nötig war.

Wie hat sich Ihre Arbeit durch Corona

verändert?

KERNER Wir haben eine riesige Unsicherhe­it festgestel­lt. Mit Beginn der Pandemie liefen bei uns die Telefone heiß. Die Anrufer hatten Fragen zu ganz unterschie­dlichen Themen, zur Kurzarbeit, zu ihrer Kündigung, zu Anträgen beim Jobcenter, zur Finanzieru­ng von Homeschool­ing und vielem mehr. Wir mussten die Zeiten für einzelne Beratungen reduzieren und die wichtigen Fälle priorisier­en. Wir mussten zudem weg von der rein persönlich­en Beratung hin zu Video, Telefon, E-Mail.

Welches Schicksal ist Ihnen besonders im Kopf geblieben?

KERNER Der Produktion­shelfer bei einer Zeitarbeit­sfirma sollte sofort eine Unterschri­ft unter ein Papier setzen. Er konnte es nicht lesen und wurde stark von seiner Führungskr­aft unter Druck gesetzt. Es stellte sich heraus, dass er seinen Aufhebungs­vertrag unterschri­eben hatte. Er schaffte es dann nicht, sich rechtzeiti­g zu wehren. Er stellte seinen Antrag auf Grundsiche­rung nicht, da der Betroffene dachte, das ginge in Zeiten der Pandemie nicht. So kam es dann sogar zur Räumungskl­age und fast zur Obdachlosi­gkeit, die wir gerade noch durch Gespräche mit dem Vermieter und dem Wohnungsam­t verhindern konnten.

Sie sind jeden Tag mit der Not von Menschen konfrontie­rt. Macht das nicht auf Dauer depressiv? Wie gehen Sie damit um?

KERNER Man muss schon aufpassen, das geht nicht spurlos an einem vorbei, wenn zum Beispiel Kinder mit betroffen sind, das nehme ich dann gedanklich schon mal mit ins Wochenende. Neue Kraft ziehe ich aber daraus, wenn Menschen wirklich geholfen werden kann und sie mal wieder lächeln können. Oft sind wir aber machtlos, dann hilft das Gespräch mit Kollegen und man muss sich zudem psychisch abgrenzen. Wir können die Welt nicht retten, aber ein wenig Licht reinbringe­n. Und der nächste Mensch in der Beratung ist schon wieder genauso wichtig, da müssen wir profession­ell mit umgehen.

Was würden Sie morgen ändern, wenn Sie es könnten, damit Ihre Arbeit leichter wird?

KERNER Die Bürokratie macht vieles sehr komplizier­t. Die Sprache in Anträgen, etwa der Arbeitslos­enhilfe, verstehe ich manchmal kaum. Es würde sehr helfen, mehr Brücken zu den Betroffene­n zu bauen, sodass sie die Zusammenhä­nge besser verstehen können.

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RP-FOTO: ANDREAS BRETZ Torsten Kerner betreut im Arbeitslos­enzentrum Menschen, die von Ausbeutung betroffen sind.

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