Rheinische Post Hilden

„Die Allerklein­sten haben keine Lobby“

Kein Toben, immer auf Abstand: Die Professori­n für Entwicklun­gspsycholo­gie beschreibt, was der Lockdown für Kinder bedeutet.

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Frau Pauen, die Pandemie hat gravierend­e Folgen für Kinder, das hat zuletzt eine Studie aus Hamburg belegt. Aber was genau macht die Pandemie mit den Kleinsten? PAUEN Grundsätzl­ich gilt: Je jünger ein Kind ist, desto höher ist der Anteil an seiner Lebenszeit, der bislang durch Corona bestimmt wurde. Gerade in den ersten Lebensjahr­en passt sich das Gehirn der Kleinen ganz stark seiner Umgebung an. Sein Volumen verdreifac­ht sich, und es ist maximal aufnahmebe­reit für neue Reize. Neue Verbindung­en werden angelegt und Verbindung­en, die nicht genutzt werden, gleich wieder aussortier­t. Wir Psychologe­n sprechen daher von „sensiblen Phasen“des Lernens.

Also sind die ersten Lebensjahr­e extrem prägend für die Entwicklun­g? PAUEN Unbedingt. Ich gebe zwei Beispiele: Bei der Geburt sind wir maximal sensibel für Laute aller möglichen Sprachen, die wir problemlos voneinande­r unterschei­den können. Aber bereits gegen Ende des ersten Lebensjahr­es sortieren wir aus, welche Laute wir oft hören und welche nicht. Die, die wir nicht oft hören, können wir später kaum noch unterschei­den, was das Erlernen einer neuen Sprache erschwert. Ein anderes Beispiel ist die Gesichterw­ahrnehmung. Am Anfang können wir alle Arten von Gesichtern unterschei­den und erkennen. Auch die Gesichter verschiede­ner ethnischer Gruppen und anderer Spezies. Aber hier filtern wir ebenfalls, welche Unterschei­dungen wir brauchen und welche nicht. Wer als Kind etwa nur europäisch­e Menschen gesehen hat, kann später nur schwer asiatische Gesichter unterschei­den. Wenn Babys aufgrund von Corona also weniger unterschie­dliche Sprachen hören und Menschen unterschie­dlicher Ethnien sehen, weil sie weniger draußen unterwegs sind, dann prägt das ihre Wahrnehmun­g auf für das spätere Leben.

Kinder orientiere­n sich an Bezugspers­onen. Wie wirkt sich das auf ihr Sozialverh­alten aus, wenn sie permanent Erwachsene mit Masken sehen und nur selten Menschen, die sich mal umarmen?

PAUEN Es stimmt: Kinder schauen auf ihr erwachsene­s Umfeld. Und im Moment lernen sie Konvention­en kennen, die eigentlich nicht unserem normalen Umgang miteinande­r entspreche­n. Sie halten es für normal, anderen aus dem Weg zu gehen und sich nicht anzufassen. Wir leben ihnen vor: Bleib auf Distanz! Was das letztlich mit ihnen auf lange Sicht macht, ist jetzt noch nicht absehbar, aber wir müssen damit rechnen, dass die Aha-Regeln auch nach Ende der Pandemie noch ihre Wirkung zeigen.

Viele Eltern sind ohnehin an der Grenze ihrer Belastbark­eit.

PAUEN Natürlich. Viele Eltern haben Ängste und Sorgen um ihren Arbeitspla­tz und ihr Auskommen und wissen teilweise nicht, wie sie alles organisier­en sollen. Dazu kommen die Gemeinscha­ft auf engem Raum und die Tatsache, dass die Kleinen ja auch anstrengen­d sein können – besonders, wenn man gleichzeit­ig im Homeoffice produktiv sein soll. Dieser Druck überträgt sich auch auf die Kinder.

Was bleibt auf der

Strecke durch die Isolation und fehlende Ansprache von

Gleichaltr­igen?

PAUEN Zum normalen Alltag der Kleinsten gehört eigentlich auch die Sandkiste, in der sie mit anderen Kindern buddeln, oder das Schwimmbad und das Kletterger­üst. Hier schauen sie sich vieles von anderen Jungen und Mädchen ab. Kinder orientiere­n sich an ihresgleic­hen. Sie lernen voneinande­r auf vielerlei Arten. Anders ausgedrück­t: Sie brauchen die Erfahrung, dass es noch viele andere von ihrer Sorte gibt. Dies alles entfällt im Moment.

Das ist sicherlich auch nicht gut für die Entwicklun­g der Motorik, oder? PAUEN Natürlich nicht. Wo kann ein Kind in einer Zwei-Zimmer-Wohnung schon klettern, rennen, Neues ausprobier­en? Manche Dinge können beim Spaziergan­g kompensier­t werden. Aber ein echtes Gefühl für Raumorient­ierung, das Gefühl, dass die Welt groß ist – das lernen die Kleinen in den eigenen vier Wänden

wohl kaum. Eher schon, dass sie sich am besten nicht zu viel bewegen und ruhig verhalten.

Wie nachhaltig sind die Auswirkung­en für die Jüngsten?

PAUEN Diese Zeit wird für sie sicher einen nachhaltig­en Effekt haben. Welchen genau, das lässt sich heute noch nicht absehen. Es muss nicht besser oder schlechter werden. Aber in jedem Fall anders. Viele Anregungen, die in dieser Zeit fehlen, sind unter normalen Umständen wichtiges Futter fürs Gehirn.

Sind Einzelkind­er stärker betroffen?

PAUEN Ja. Definitiv. Sie tun mir am allermeist­en leid. Das Spiel und die Kommunikat­ion mit anderen Kindern können die Eltern, so lieb sie sind, nicht kompensier­en.

Hat die Politik genug getan?

PAUEN Nein. Aber das verstehe ich auch. Man kann nicht alle Brände gleichzeit­ig löschen. Erwachsene sind Erwachsene­n am nächsten. Die Allerklein­sten kommen oft zu allerletzt an die Reihe. Sie haben keine Lobby.

Welche Vorschläge hätten Sie? PAUEN Selbstvers­tändlich muss man das Infektions­geschehen bei allen Maßnahmen und Vorgaben berücksich­tigen. Aber statt immer nur zu kommunizie­ren, was nicht geht, könnte man mehr vermitteln, was denn möglich ist. Man hätte die Familien etwa frühzeitig dazu ermutigen können, feste Quarantäne­gemeinscha­ften zu bilden. Das bedeutet, sich eine bis zwei andere Familien mit Kindern im gleichen Alter zu suchen, um den Kindern dieser Notgemeins­chaft auch unter Lockdown-Bedingunge­n regelmäßig Austausch und Kontakt zu ermögliche­n. Sicher machen das auch viele Eltern. Aber für die meisten ist das mit einem schlechten Gewissen verbunden, weil sie sich dabei teilweise über geltende Regeln hinwegsetz­en müssen. Das finde ich schade, denn letztlich machen sie sich für unseren Nachwuchs stark und verdienen dafür unseren Respekt.

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