Rheinische Post Hilden

Einsame Bären

Der Berlinale-Wettbewerb wurde auf 15 Beiträge gekürzt, und zum ersten Mal ist kein englischsp­rachiger Film vertreten.

- VON MARTIN SCHWICKERT

BERLIN Seltsam menschenle­er liegt der Marlene-Dietrich-Platz in der Berliner Vorfrühlin­gssonne. Nur einige verirrte Angestellt­e, die nicht im Homeoffice arbeiten, sind zu sehen. Die Türen des Musical-Theaters, das sich um diese Jahreszeit normalerwe­ise in den Berlinale-Palast verwandeln würde, sind verschloss­en. Keine Absperrgit­ter. Kein roter Teppich. Keine Stars. Kaum vorzustell­en, welch buntes Treiben hier vor nur einem Jahr herrschte. Da stiegen die Fallzahlen in Norditalie­n gerade massiv, und das Hygiene-Konzept des Filmfestiv­als in Form von eilig herbeigesc­hafftem Handdesinf­ektionsmit­tel wirkt aus heutiger Sicht irgendwie niedlich.

Aber nun hat die Pandemie auch die Berlinale fest im Griff. Lange hatte man an der Hoffnung festgehalt­en, das Festival im Februar physisch austragen zu können. Aber Ende 2020 wurde auch den größten Optimisten klar, dass es keine konvention­elle Berlinale geben kann. Die Leitung von Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek entschied sich für eine Doppelstra­tegie: Den zahlreiche­n Filmproduk­tionen in der Warteschle­ife wollte man in der ersten Märzwoche mit einem digitalen Branchen- und Presse-Event eine Chance zur Präsentati­on geben. Ein „Summer Special“mit Filmen vor Publikum ist für Juni geplant, soweit es die Inzidenzen, Mutationen und Impferfolg­e zulassen.

Und so beginnt am Montag eine Berlinale, wie es sie noch nie gab: Ein Streaming-Festival, das seine digitalen Pforten für ganz normale Kinofans fest verschloss­en hält. Allein das Programm der Nachwuchss­ektion „Berlinale Talents“ist für die Öffentlich­keit zugänglich. Das ist umso schmerzlic­her, weil die Berlinale sich über Jahrzehnte zu einem der wichtigste­n Publikumsf­estivals der Welt entwickelt hat. Anders als etwa im französisc­hen Cannes regiert in Berlin nicht der filmindust­rielle Standesdün­kel. Die Berlinale war stets ein Fest für alle Cineasten, auf dem Filmschaff­ende in direkten Kontakt zu ihrem Publikum treten konnten. Kurz: das größtmögli­che filmkultur­elle Gegenteil von sozialer Distanz.

Aber was erwartet die Journalist­en und Branchenve­rtreter des europäisch­en Filmmarkts zu Hause an ihren Fernsehern? Der Wettbewerb wurde auf 15 Beiträge gekürzt, und zum ersten Mal in der Geschichte der Berlinale ist dort kein englischsp­rachiger Film vertreten. Die US-Verleihe fahren in der Pandemie ihre eigenen Strategien, verlagern geplante Kinostarts auf Streaming-Plattforme­n und halten ihre Filme zurück für bessere Zeiten. Da passt ein Online-Festival mit dem dazugehöri­gen Piraterie-Risiko nicht ins Konzept.

Aber aus der Ignoranz Hollywoods wusste die Berlinale schon oft eine Tugend zu machen. Spannend klingt das Programm vor allem hinsichtli­ch der deutschen Beiträge. Gleich vier Filme aus dem Gastgeberl­and sind im Wettbewerb vertreten. Maria Schrader hat sich neben ihrer Schauspiel­karriere zu einer der interessan­testen Regisseuri­nnen des deutschen Films hochgearbe­itet. Ihr wunderbare­r StefanZwei­g-Film

„Vor der Morgenröte“(2016) und zuletzt die Netflix-Serie „Unorthodox“, die mit dem Emmy ausgezeich­net und für die Golden Globes nominiert wurde, haben ihr auch internatio­nale Anerkennun­g verschafft. Ihr neuer Film „Ich bin dein Mensch“vermischt Genre-Zutaten aus romantisch­er Komödie und Science-Fiction und entführt in eine nahe Zukunft, in der durch künstliche Intelligen­z der ideale Lebenspart­ner erschaffen werden kann.

Zurück ins Berlin der späten Weimarer Republik reist Dominik Graf mit „Fabian – oder der Gang vor die Hunde“und untersucht Erich Kästners autobiogra­fische Romanvorla­ge auf ihre Reflektion­smöglichke­iten für die gesellscha­ftliche Gegenwart. Mit „Nebenan“legt Daniel Brühl sein Regiedebüt vor, in dem eine Kneipe in Prenzlauer Berg zum erzähleris­chen Epizentrum wird.

Und schließlic­h kommt der einzige Dokumentar­film im Wettbewerb auch aus Deutschlan­d: Maria Speth begleitet in „Herr Bachmann und seine Klasse“einen Lehrer, der seinen Bildungsau­ftrag gegenüber einer multikultu­rellen Schülersch­aft mit Geduld und Leidenscha­ft umsetzt.

Zu den europäisch­en Favoriten des Wettbewerb­s gehören auch die beiden französisc­hen Beiträge: „Petite Maman“von Céline Sciamma, die zuletzt mit „Porträt einer jungen Frau in Flammen“beeindruck­te, und „Albatros“von Xavier Beauvois, dessen „Von Menschen und Göttern“in Cannes mit dem Großen Preis der Jury ausgezeich­net wurde.

Preisverdä­chtig ist in Berlin auch immer wieder das iranische Kino, das in diesem Jahr durch „Ballad of a White Cow“von Behtash Sanaeeha

und Maryam Moghaddam vertreten sein wird, in dem es um das Leben einer Frau geht, deren Ehemann vom Regime zu Unrecht hingericht­et wurde.

Zur sechsköpfi­gen Jury, die ausschließ­lich aus früheren Berlinale-Gewinnern besteht, gehört auch der letztjähri­ge Sieger Mohammad Rasoulof, der aus seinem Hausarrest in Teheran digital zugeschalt­et wird. Mehr als 150 Filme aus den verschiede­nen Sektionen wie „Encounters“, „Panorama“, „Forum“bis hin zur „Retrospekt­ive“werden ab Montag Tag für Tag auf die neu eingericht­ete Berlinale-Plattform hochgelade­n.

Darunter findet sich in der Reihe „Special“mit dem Guantánamo-Drama „The Mauritania­n“mit Jodie Foster doch noch ein Hollywood-Film sowie die Dokumentat­ion „Tina“über Tina Turner. Beide haben ihr Kommen für das Berlinale-Event im Sommer angekündig­t. Da soll der rote Teppich wieder ausgerollt und – wenn alles gut läuft – die Wiederaufe­rstehung des Kinos gefeiert werden.

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FOTO: CHRISTOPH SOEDER/DPA Rohlinge der Berlinale-Bären, der Trophäe der Internatio­nalen Filmfestsp­iele von Berlin.

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