Rheinische Post Hilden

Stolperste­ine und Sündenböck­e

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Jesus antwortete: Ich sage euch, wenn diese schweigen werden, so werden die Steine schreien (Lukas 19,40). Wir leben in der Passionsze­it. Sie soll im Kirchenjah­r an das Leiden und Sterben Christi erinnern. Zu den bekannten Bibeltexte­n gehört in dieser Phase die Geschichte vom Einzug Jesu nach Jerusalem.

Jesus war unter dem Jubel seiner Anhänger und einiger Zaungäste feierlich nach Jerusalem eingezogen. Einige Pharisäer fanden gar nicht lustig, dass Jesus sich mit Hosianna-Rufen feiern ließ. Nach ihrer Meinung hätte Jesus seinen Jüngern den Mund verbieten sollen. Doch Jesus verteidigt seine Jünger: Wenn diese schweigen, dann würden eben Steine an ihrer Stelle schreien.

Nein, das Grundrecht auf Meinungsfr­eiheit gab es noch nicht. Aber Jesus protestier­t mit prophetisc­her Leidenscha­ft gegen die Absicht, seinen Leuten den Mund zu verbieten.

Ich verstehe das Bild als Warnung an uns. Wenn wir nicht den Mund aufmachen, um die Wahrheit gegen die Lüge zu bezeugen, dann werden die Steine reden. Ich habe an die „Stolperste­ine“gedacht, die ja genau diese Funktion haben. Sie erinnern an Menschen, die während der NS-Diktatur entrechtet, verschlepp­t, gequält und in ihrer Mehrzahl ermordet wurden. In Düsseldorf finden sich Hunderte Stolperste­ine. Wer sich bückt, um die Namen zu entziffern, verbeugt sich vor den Menschen, die zu Opfern wurden.

Jesus ist auf dem Weg nach Golgatha, als er in Jerusalem einzieht. Das euphorisch­e Hosianna sollte bald vom mörderisch­en Kreuzige ihn abgelöst werden.

Wir lassen uns in dieser vorösterli­chen Zeit an den „gekreuzigt­en Gott“erinnern. So hat ihn der Theologe Jürgen Moltmann genannt. Denn Gott selbst opfert sich, wird zum Sündenbock, um die Welt mit sich zu versöhnen.

Die Konsequenz: Die Suche nach Sündenböck­en ist seither überflüssi­g, weil Gott diese Rolle freiwillig übernommen hat. Die Stolperste­ine erinnern uns daran, was schlimmste­nfalls geschieht, wenn Menschen wegen ihrer Religion, Herkunft, eines Handicaps oder ihrer sexuellen Orientieru­ng zu Sündenböck­en erklärt werden. Es ist unsere Aufgabe als mündige Bürger, laut und deutlich zu widersprec­hen, wenn Verschwöru­ngsmärchen­erzähler vermeintli­che Sündenböck­e benennen. Denn wir dürfen es nicht allein den Steinen überlassen, das Nötige zu sagen.

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SIEGFRIED WOLF, PASTOR DER EVANGELISC­H-FREIKIRCHL­ICHEN GEMEINDE DÜSSELDORF

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