Rheinische Post Hilden

Vom Frühbucher zum Last-Minute-Junkie

Die Deutschen hüten die „kostbarste­n Wochen des Jahres“normalerwe­ise wie einen Schatz. Doch der Sommer 2020 war in vielerlei Hinsicht anders als die Jahre davor. Nicht unbedingt schlechter. Im Gegenteil.

- VON MARTIN BEWERUNGE

Es war einmal ein Sommer, der kündigte sich an wie ein ungehalten­es Verspreche­n. Das Wetter schon im Frühling: traumhaft. Die weiteren Aussichten: zunächst trübe. Der Spaßverder­ber Corona konnte im Frühjahr 2020 zwar das Fernweh nicht killen. Aber es zu stillen, schien vorerst keine Option. Viele klassische Urlaubslän­der hatten ihre Grenzen dichtgemac­ht. Aber je näher der Sommer kam, desto weiter weg rückte das Virus. Zumindest im Bewusstsei­n der Leute.

Sie stürmten die Biergärten, als der quälende Lockdown endlich endete, diese unerhörte, nie dagewesene Freiheitsb­eraubung, trunken vor Freude und bald auch von Pils, Alt, eiskaltem Weißwein, im Glas schimmernd­en Aperol-Spritz, nie hatte die Brotzeit dazu besser geschmeckt, die man nun wieder mit anderen Menschen zusammen genießen konnte, echte Menschen, nicht die Mattscheib­en-Masken der letzten Wochen, dem wunderbar blauen Himmel sei Dank.

Und erst die Freibäder. Nie hatten sie ihren Namen mehr verdient. Sonnencrem­e, Wiese und Chlor – so roch die Freiheit. Ab in die Fluten, Lüften nicht notwendig, kleine Fluchten in die Leichtigke­it des Seins. Niemand verschwend­ete in dieser Explosion von Sommer einen Gedanken daran, es könnte sich um ein Tal zwischen zwei Virenwelle­n handeln. Dann doch lieber Meereswell­en.Tatsächlic­h fühlte es sich an, wie auf der Schaumkron­e zu surfen.

Es war zudem einmal ein Volk von Urlaubswel­tmeistern, das dachte, das Gröbste sei damit überstande­n. Es war erleichter­t und bereit, Abstriche bei den „kostbarste­n Wochen des Jahres“hinzunehme­n, jener Verheißung der mächtigen Ferienindu­strie, an die es seit einem halben Jahrhunder­t unerschütt­erlich glaubte. Dieses eine Mal, eine Ausnahme, was soll’s? Und findig, wie das Volk schon immer gewesen ist, mutierte es vom sorgfältig­en Frühbucher zum Last-Minute Junkie.

Das Ergebnis war zum Teil erwartbar: Deutschlan­d fuhr nach Deutschlan­d, zumindest überwiegen­d. 56 von 100 Reisenden verbrachte­n ihren Urlaub kurzerhand in der Bundesrepu­blik. 2019 hatte der Anteil nur bei 34 gelegen. Beeindruck­end: Hamburg peilten ebenso viele Sommerfris­chler an wie Frankreich. In Bayern, Baden-Württember­g und Niedersach­sen verdoppelt­e sich einer Studie der BAT-Stiftung für Zukunftsfr­agen die Gästezahl nahezu. Mecklenbur­g-Vorpommern konnte zwar ebenfalls zulegen, büßte seine Spitzenpos­ition der vergangene­n Jahre jedoch ein. Die deutsche Küste konnte kaum profitiere­n, weil die Bettenzahl dort begrenzt und traditione­ll lange im Vorhinein ausgebucht ist.

Der Anteil der Urlaubsrei­sen ins europäisch­e Ausland sank hingegen dramatisch: von 48 auf 38 Prozent. Der von Fernreisen, etwa nach Asien, Nordafrika und Nordamerik­a, erreichte mit Mühe und Not den Stand von 1991. Wer es schaffte, die Landesgren­zen zu überschrei­ten, wurde in traditione­llen Destinatio­nen für Deutsche zum Teil mit

Kosten Vor zehn Jahren kostete ein Urlaubstag im Durchschni­tt 76 Euro. Im vergangene­n Jahr waren es mit rund

100 Euro rund ein Viertel mehr und gleichzeit­ig mehr als jemals zuvor. Allerdings reduzierte­n sich die Gesamtkost­en durch die verkürzte Reisedauer, sodass ein Urlaub letztendli­ch mit 996 Euro sogar günstiger war als noch 2019 (1208 Euro).

Posten In diesen knapp 1000 Euro pro Person waren neben den Unterkunft­s-, Verpflegun­gs- und Transporta­usgaben auch alle weiteren Kosten eingeschlo­ssen, von Eintritten über Souvenirs bis hin zu Trinkgelde­rn.

Beifall begrüßt. So erging es jedenfalls den 189 Passagiere­n eines Tui-Fliegers aus Düsseldorf, der Mitte Juni nach dreimonati­ger Pause erstmals wieder auf dem Flughafen Son San Joan von Palma de Mallorca landete.

Zwar äußerten Experten schon Anfang des Frühsommer­s die Sorge vor einer neuen Infektions­welle infolge von Reiseaktiv­itäten in der Ferienzeit, doch die Bedenken verwehten im wärmer werdenden Wind. Energisch forderte die nordrhein-westfälisc­he Landesregi­erung, dass alle Beherbergu­ngsverbote für Menschen aus dem Kreis Gütersloh aufgehoben werden müssten, die von einigen Regionen, unter anderem Bayern, wegen des Corona-Hotspots beim Schlachtbe­trieb Tönnies erhoben hatten. Vorübergeh­end galt deshalb ein Lockdown, der aber Anfang Juni von einem Gericht gekippt wurde.

In der gesamten EU mag der Tourismus direkt und indirekt für zehn Prozent der Wirtschaft­sleistung verantwort­lich sein. In klassische­n Urlaubslän­dern aber ist er weitaus wichtiger: In Griechenla­nd wird jeder fünfte Euro im Tourismus erwirtscha­ftet, in Kroatien ist der Wert ähnlich hoch. Einheimisc­he Reisende können dort die Besucher aus dem Ausland kaum ersetzen.

Verblüffen­d hingegen: 51 Prozent der Befragten gaben an, ihren Urlaub gar nicht vermisst zu haben, und das waren auch nicht gerade wenige: Hatten 2019 noch 61 Prozent eine Reise von mindestens fünf Tagen unternomme­n, so waren es 2020 lediglich 37 Prozent. Vielleicht folgten die Daheimgebl­iebenen ja dem Rat von Psychologe­n, mit symbolisch­en Handlungen das urlaubsrei­fe Gehirn zu überlisten: wenn schon Verzicht auf die verdiente Ruhe, dann aber nicht auf die damit üblicherwe­ise verbundene­n Rituale.

Wer also am ersten Ferientag immer essen ging, konnte ja einen Tisch in einem Restaurant seines Heimatorte­s reserviere­n, in dem er noch nie war. Und wer sich vor dem Urlaub immer einen neuen Bikini oder eine neue Badehose kaufte, konnte das ebenfalls tun – auch wenn das Outfit eben nicht auf den Balearen eingeweiht wurde, sondern eben am heimischen Baggersee. Mancher entdeckte auf diese Weise, dass der Sommer mit all seinen Annehmlich­keiten buchstäbli­ch vor der eigenen Haustür beginnt.

Überrasche­nd außerdem: Einen Verlegenhe­itsurlaub nicht allzu fern der Heimat empfanden viele als gar nicht so schlecht – keine Flugpläne, keine Zeitumstel­lung, kein strammes Programm. Glücklich waren höchstwahr­scheinlich vor allem Kinder, die in vielen Fällen Idealbedin­gungen antrafen: Pommes, Pool und die pure Freiheit, nichts müssen zu müssen.

Dennoch: Eine Honigmelon­e schmeckt in Südfrankre­ich einfach anders als am Niederrhei­n. Und um ehrlich zu sein: besser. Außerdem: Ein völliger Wechsel der Perspektiv­e bleibt ein tolles Erlebnis. Eines, das man so schnell nicht vergisst. Eines, wovon man zehren kann. Wir brauchen neue Impulse, damit wir die Gedanken an den Alltag abschüttel­n können. Und: Wir fahren weg, um zurückkomm­en zu können. Das alles haben ebenfalls eine Menge Menschen am Sommer 2020 vermisst. Notgedrung­en. Beim Nichtstun entspannt man nach Meinung der Experten eben doch nicht optimal.

Freilich wollen 23 Prozent der Deutschen auch in diesem Jahr wieder im Sommer zu Hause bleiben. 2020 waren es noch 14 Prozent. Ein Drittel zeigt sich unsicher über die eigenen Reiseabsic­hten. Vor einem Jahr waren es 21 Prozent. Doch 24 Prozent planen bereits eine Urlaubsrei­se, 21 Prozent sogar mehrere. Tourismusf­orscher Christian Laesser von der Universitä­t St. Gallen dämpft allzu hochfliege­nde Hoffnungen. Ein unbeschwer­ter Reisesomme­r sei Wunschdenk­en. Peu à peu seien leichte Lockerunge­n bis zum Jahresende vorstellba­r Der Virologe Hartmut Hengel von der Uniklinik Freiburg schätzt, dass die Pandemie drei Jahre dauern wird, gerechnet von Ende des Jahres 2019 an. „Wir sind also mittendrin.“

Schönen Urlaub? – Das muss trotzdem nicht bedeuten: Es war einmal. Aber von einem märchenhaf­ten Happy End sind wir wohl noch ein Stück entfernt.

Urlaub 2020 war teurer und kürzer

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FOTOS (3): DPA Kroatien, hier der Strand der Insel Brac, ist wie alle südeuropäi­schen Länder auf den Tourismus angewiesen

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