Vom Frühbucher zum Last-Minute-Junkie
Die Deutschen hüten die „kostbarsten Wochen des Jahres“normalerweise wie einen Schatz. Doch der Sommer 2020 war in vielerlei Hinsicht anders als die Jahre davor. Nicht unbedingt schlechter. Im Gegenteil.
Es war einmal ein Sommer, der kündigte sich an wie ein ungehaltenes Versprechen. Das Wetter schon im Frühling: traumhaft. Die weiteren Aussichten: zunächst trübe. Der Spaßverderber Corona konnte im Frühjahr 2020 zwar das Fernweh nicht killen. Aber es zu stillen, schien vorerst keine Option. Viele klassische Urlaubsländer hatten ihre Grenzen dichtgemacht. Aber je näher der Sommer kam, desto weiter weg rückte das Virus. Zumindest im Bewusstsein der Leute.
Sie stürmten die Biergärten, als der quälende Lockdown endlich endete, diese unerhörte, nie dagewesene Freiheitsberaubung, trunken vor Freude und bald auch von Pils, Alt, eiskaltem Weißwein, im Glas schimmernden Aperol-Spritz, nie hatte die Brotzeit dazu besser geschmeckt, die man nun wieder mit anderen Menschen zusammen genießen konnte, echte Menschen, nicht die Mattscheiben-Masken der letzten Wochen, dem wunderbar blauen Himmel sei Dank.
Und erst die Freibäder. Nie hatten sie ihren Namen mehr verdient. Sonnencreme, Wiese und Chlor – so roch die Freiheit. Ab in die Fluten, Lüften nicht notwendig, kleine Fluchten in die Leichtigkeit des Seins. Niemand verschwendete in dieser Explosion von Sommer einen Gedanken daran, es könnte sich um ein Tal zwischen zwei Virenwellen handeln. Dann doch lieber Meereswellen.Tatsächlich fühlte es sich an, wie auf der Schaumkrone zu surfen.
Es war zudem einmal ein Volk von Urlaubsweltmeistern, das dachte, das Gröbste sei damit überstanden. Es war erleichtert und bereit, Abstriche bei den „kostbarsten Wochen des Jahres“hinzunehmen, jener Verheißung der mächtigen Ferienindustrie, an die es seit einem halben Jahrhundert unerschütterlich glaubte. Dieses eine Mal, eine Ausnahme, was soll’s? Und findig, wie das Volk schon immer gewesen ist, mutierte es vom sorgfältigen Frühbucher zum Last-Minute Junkie.
Das Ergebnis war zum Teil erwartbar: Deutschland fuhr nach Deutschland, zumindest überwiegend. 56 von 100 Reisenden verbrachten ihren Urlaub kurzerhand in der Bundesrepublik. 2019 hatte der Anteil nur bei 34 gelegen. Beeindruckend: Hamburg peilten ebenso viele Sommerfrischler an wie Frankreich. In Bayern, Baden-Württemberg und Niedersachsen verdoppelte sich einer Studie der BAT-Stiftung für Zukunftsfragen die Gästezahl nahezu. Mecklenburg-Vorpommern konnte zwar ebenfalls zulegen, büßte seine Spitzenposition der vergangenen Jahre jedoch ein. Die deutsche Küste konnte kaum profitieren, weil die Bettenzahl dort begrenzt und traditionell lange im Vorhinein ausgebucht ist.
Der Anteil der Urlaubsreisen ins europäische Ausland sank hingegen dramatisch: von 48 auf 38 Prozent. Der von Fernreisen, etwa nach Asien, Nordafrika und Nordamerika, erreichte mit Mühe und Not den Stand von 1991. Wer es schaffte, die Landesgrenzen zu überschreiten, wurde in traditionellen Destinationen für Deutsche zum Teil mit
Kosten Vor zehn Jahren kostete ein Urlaubstag im Durchschnitt 76 Euro. Im vergangenen Jahr waren es mit rund
100 Euro rund ein Viertel mehr und gleichzeitig mehr als jemals zuvor. Allerdings reduzierten sich die Gesamtkosten durch die verkürzte Reisedauer, sodass ein Urlaub letztendlich mit 996 Euro sogar günstiger war als noch 2019 (1208 Euro).
Posten In diesen knapp 1000 Euro pro Person waren neben den Unterkunfts-, Verpflegungs- und Transportausgaben auch alle weiteren Kosten eingeschlossen, von Eintritten über Souvenirs bis hin zu Trinkgeldern.
Beifall begrüßt. So erging es jedenfalls den 189 Passagieren eines Tui-Fliegers aus Düsseldorf, der Mitte Juni nach dreimonatiger Pause erstmals wieder auf dem Flughafen Son San Joan von Palma de Mallorca landete.
Zwar äußerten Experten schon Anfang des Frühsommers die Sorge vor einer neuen Infektionswelle infolge von Reiseaktivitäten in der Ferienzeit, doch die Bedenken verwehten im wärmer werdenden Wind. Energisch forderte die nordrhein-westfälische Landesregierung, dass alle Beherbergungsverbote für Menschen aus dem Kreis Gütersloh aufgehoben werden müssten, die von einigen Regionen, unter anderem Bayern, wegen des Corona-Hotspots beim Schlachtbetrieb Tönnies erhoben hatten. Vorübergehend galt deshalb ein Lockdown, der aber Anfang Juni von einem Gericht gekippt wurde.
In der gesamten EU mag der Tourismus direkt und indirekt für zehn Prozent der Wirtschaftsleistung verantwortlich sein. In klassischen Urlaubsländern aber ist er weitaus wichtiger: In Griechenland wird jeder fünfte Euro im Tourismus erwirtschaftet, in Kroatien ist der Wert ähnlich hoch. Einheimische Reisende können dort die Besucher aus dem Ausland kaum ersetzen.
Verblüffend hingegen: 51 Prozent der Befragten gaben an, ihren Urlaub gar nicht vermisst zu haben, und das waren auch nicht gerade wenige: Hatten 2019 noch 61 Prozent eine Reise von mindestens fünf Tagen unternommen, so waren es 2020 lediglich 37 Prozent. Vielleicht folgten die Daheimgebliebenen ja dem Rat von Psychologen, mit symbolischen Handlungen das urlaubsreife Gehirn zu überlisten: wenn schon Verzicht auf die verdiente Ruhe, dann aber nicht auf die damit üblicherweise verbundenen Rituale.
Wer also am ersten Ferientag immer essen ging, konnte ja einen Tisch in einem Restaurant seines Heimatortes reservieren, in dem er noch nie war. Und wer sich vor dem Urlaub immer einen neuen Bikini oder eine neue Badehose kaufte, konnte das ebenfalls tun – auch wenn das Outfit eben nicht auf den Balearen eingeweiht wurde, sondern eben am heimischen Baggersee. Mancher entdeckte auf diese Weise, dass der Sommer mit all seinen Annehmlichkeiten buchstäblich vor der eigenen Haustür beginnt.
Überraschend außerdem: Einen Verlegenheitsurlaub nicht allzu fern der Heimat empfanden viele als gar nicht so schlecht – keine Flugpläne, keine Zeitumstellung, kein strammes Programm. Glücklich waren höchstwahrscheinlich vor allem Kinder, die in vielen Fällen Idealbedingungen antrafen: Pommes, Pool und die pure Freiheit, nichts müssen zu müssen.
Dennoch: Eine Honigmelone schmeckt in Südfrankreich einfach anders als am Niederrhein. Und um ehrlich zu sein: besser. Außerdem: Ein völliger Wechsel der Perspektive bleibt ein tolles Erlebnis. Eines, das man so schnell nicht vergisst. Eines, wovon man zehren kann. Wir brauchen neue Impulse, damit wir die Gedanken an den Alltag abschütteln können. Und: Wir fahren weg, um zurückkommen zu können. Das alles haben ebenfalls eine Menge Menschen am Sommer 2020 vermisst. Notgedrungen. Beim Nichtstun entspannt man nach Meinung der Experten eben doch nicht optimal.
Freilich wollen 23 Prozent der Deutschen auch in diesem Jahr wieder im Sommer zu Hause bleiben. 2020 waren es noch 14 Prozent. Ein Drittel zeigt sich unsicher über die eigenen Reiseabsichten. Vor einem Jahr waren es 21 Prozent. Doch 24 Prozent planen bereits eine Urlaubsreise, 21 Prozent sogar mehrere. Tourismusforscher Christian Laesser von der Universität St. Gallen dämpft allzu hochfliegende Hoffnungen. Ein unbeschwerter Reisesommer sei Wunschdenken. Peu à peu seien leichte Lockerungen bis zum Jahresende vorstellbar Der Virologe Hartmut Hengel von der Uniklinik Freiburg schätzt, dass die Pandemie drei Jahre dauern wird, gerechnet von Ende des Jahres 2019 an. „Wir sind also mittendrin.“
Schönen Urlaub? – Das muss trotzdem nicht bedeuten: Es war einmal. Aber von einem märchenhaften Happy End sind wir wohl noch ein Stück entfernt.
Urlaub 2020 war teurer und kürzer