Rheinische Post Hilden

Husch, husch im Körbchen

Rodeln ohne Schnee: Seit mehr als 150 Jahren schliddern auf der bergigen Atlantikin­sel Madeira täglich Gäste in Korbschlit­ten durch steile Gassen ins Tal, gesteuert von Männern in weißen Hosen und mit „Kreissägen“auf dem Kopf.

- VON STEPHAN BRÜNJES

Nummer 19 steht auf Regenreife­n. Heute jedenfalls, denn sein Arbeitspla­tz, die steil abschüssig­e Straße, ist feucht und rutschig. In seinem Job braucht er „Grip“auf dem Asphalt, vor allem in scharfen Kurven. Auf seine Regenreife­n kann Nummer 19 sich dabei verlassen. Sie haben tiefes Rillenprof­il, rollen aber nicht, sondern sind als zentimeter­dicke Sohle unter seine verschramm­ten Stiefel genäht, so wie die Trockenrei­fen und die Allrounder unter zwei weitere Stiefelpaa­re. Nummer 19 bildet heute ein Team mit Nummer 13. So stehen sie auf dem Tagesablau­f von Nummer 148. Er koordinier­t, welche Korbschlit­ten von wem und wann aus Madeiras 600 Meter hohen Wallfahrts­ort Monte ins Tal gelenkt werden. Dabei dirigiert er seine Kollegen nur nach Nummern. Jeder Korbschlit­tenlenker – portugiesi­sch: Carreiro – hat eine Nummer, auf Lebenszeit vergeben und eingestick­t in die blaue Uniform-Fleece-Jacke.

Nummer 19 – alias José Fabio Sousa Aguiar – ist in gut einer Stunde dran und wartet in der Bar ein paar Meter oberhalb des Startpunkt­s auf seinen Einsatz – beim Galao, dem portugiesi­schen Milchkaffe­e. Durchs offene Fenster dringt Stimmengew­irr, hier und da eine laut gerufene Anweisung. Der 31-Jährige blickt lächelnd auf das Treiben in der belebten Gasse. Seine Kollegen, alle in weißen Hemden und Hosen sowie mit Strohhut, auch Kreissäge genannt, bugsieren dort

Gefährte, die aussehen wie geflochten­e XXL-Hundekörbc­hen mit Sitzbank zur Startposit­ion. Die darunter montierten Kufen schrammen beim Schieben auf dem Asphalt wie Kanten von Skiern im Schnee. „Genau den aber braucht auf Madeira niemand zum Rodeln“, sagt José Fabio: „Wir schliddern so die Straßen runter, manchmal schmieren wir die Kufen mit Schweinefe­tt ein, damit sie besser rutschen.“Es ist die wohl weltweit einzige Ganzjahres­schlitten-Fahrt bei Temperatur­en von 12 bis 30 Grad.

Los geht’s für Zigtausend­e Touristen pro Jahr, nachdem sie 20 Minuten lang per Seilbahn über rote Schindeldä­cher und fast senkrecht abschüssig­e Terrassenf­elder in Monte eingeschwe­bt sind. Ein erster Eindruck, wie steil und zerklüftet die vulkanisch­e bis zu 1800 Meter aus dem Atlantik ragende und zu Portugal gehörende Insel ist. Im Jahre 1758 hat wohl der Brite Russell Manners Gordon den ersten Schlitten eingeführt – damals, um Obst und Gemüse leichter runter zum Markt in Madeiras Hauptstadt Funchal zu schaffen. Daher der Schlitten-Name

„Carros de Cestos – Karren für (Obst-)Körbe. „Etwa um 1850 musste eine schwer kranke Frau aus den Bergen dringend ins Hospital“, erzählt José Fabio „da kam jemand auf die Idee, sie per Schlitten dorthin zu transporti­eren.“Kurz darauf nutzten erste Madeirense­r die Carros als öffentlich­es Personen-Nahverkehr­smittel – Portugals vermutlich ältestes. Seit damals gibt es den Beruf des Korbschlit­tenfahrers auf Madeira, in vielen Familien von Generation zu Generation vererbt. Leben können nicht alle davon. Emanuel Perreira etwa fährt zusätzlich noch Müllwagen. José Fabio schreckt das nicht ab – ein Freund, dessen Familie keinen Schlittenf­ahrer-Nachwuchs hat, führte ihn in die Carreiro-Zunft ein.

Jetzt, gut zehn Minuten vor seinem Start, checkt der hoch aufgeschos­sene Schlaks, ob er alles dabei hat für die Abfahrt. Am wichtigste­n ist sein etwa fingerdick­es Seil mit ein paar Knoten drin: „Ich fädele es vorne an der Spitze der Kufe durch ein Loch und ziehe oder bremse damit den Schlitten.“Gelernt hat er es in der vierwöchig­en Carreiro-Fahrschule: „erst mit leerem Schlitten den Berg runter, ohne an Hauswänden entlangzus­chrammen, dann einen erfahrenen Kollegen als

Touristen-Double

„Nummer 19!“, ruft jemand in die Bar. José Fabio geht raus, zieht einen der am Haus lehnenden Schlitten zur Startposit­ion. Aus der gegenüber wartenden Menschensc­hlange werden zwei Passagiere zum Einsteigen gebeten. Renato Mendoza – alias Nummer 13, der Co-Pilot, – stellt sich auf die linke Kufe, José Fabio auf die rechte. „Gut festhalten“, sagt er, wir werden bis zu 40 Stundenkil­ometer schnell!“Rasant fühlt sich das an, zu spüren gleich auf den ersten 200 steilen Metern. Scharfe Linkskurve, die Strecke zwischen hohen Hausmauern wirkt wie ein verbreiter­ter Bob-Kanal. „Das Schwierigs­te sind die Kurven“, ruft José Fabio ins schrammend­e Fahrgeräus­ch der Kufen. Geht’s scharf nach links, bremst Renato links mit Trippelsch­ritten leicht ab, und José macht rechts zugleich lange Schritte in Schräglage, drückt dabei den Schlitten in die Kurve, um sein Ausbrechen nach rechts zu verhindern.“Die Folge: Enormer Abrieb an den Sohlen – spätestens alle vier Wochen müssen neue unter die Stiefel. Das erledigen Spezialist­en unter den etwa 150 Carreiros, sie schneiden Autoreifen­teile zu und vernähen sie mit reißfestem Nylonfaden.

Renato und José Fabio wedeln den Schlitten jetzt im Slalom durch die Gasse. Der Asphalt schimmert. „Nein, er ist kutschiere­n.“ nicht mehr nass, der sieht so aus, weil wir ihn täglich mit unseren Schlitten polieren“, sagt José Fabio und beteuert, einen Unfall habe es noch nie gegeben. Plötzlich biegt wenige Meter vor ihm ein Auto ein. Beide Carreiros springen sofort vom Schlitten, bremsen ihn mit ihren Seilen ruckelfrei in den Stand. ABS zu Fuß. „Genau hier, nach der Hälfte der Strecke, wollte mal eine ängstliche Frau unbedingt aussteigen“, erzählt José Fabio, etwas außer Puste. Sie verpasste so den Fotopoint und damit eine schöne Erinnerung: Am Rande der Strecke hocken Fotografen, sie sind noch schneller als die Carreiros. Wenn die Schlitten nach zwei Kilometern ins Ziel rutschen, halten dort bereits Männer den aussteigen­den Passagiere­n die per Funk übermittel­ten Fotos zum Kauf hin. Manchmal sind schreckgew­eitete, meist aber glücklich lächelnde Gesichter drauf.

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FOTOS: STEPHAN BRÜNJES In Korbschlit­ten befördern die Carreiros Menschen durch die engen Gassen Madeiras.
 ??  ?? Die Carreiros warten in Monte auf Fahrgäste und somit auf ihren nächsten Einsatz.
Die Carreiros warten in Monte auf Fahrgäste und somit auf ihren nächsten Einsatz.
 ??  ?? Der 31 Jahre alte Korbschlit­tenfahrer José Fabio Sousa Aguiar trägt die Nummer 19.
Der 31 Jahre alte Korbschlit­tenfahrer José Fabio Sousa Aguiar trägt die Nummer 19.
 ??  ?? Die Sohle der Stiefel der Carreiros besteht aus Autoreifen.
Die Sohle der Stiefel der Carreiros besteht aus Autoreifen.

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