„Viele Erstis rufen völlig verzweifelt an“
Die Diplom-Psychologin berät an der Uni zurzeit viele Studierende, die mit dem Online-Studium nicht zurecht kommen.
Frau Wuttke, mit welchen Sorgen und Problemen melden sich Studierende in der Corona-Pandemie jetzt vor allem bei Ihnen in der Psychologischen Beratung?
WUTTKE Was uns besonders gewundert hat, war, wieviel mehr Erstsemester angerufen haben. Normalerweise beginnt man erst mal zu studieren, alles ist neu und spannend und die Probleme sind noch nicht so da. Und jetzt rufen wenige Wochen nach dem Studienstart schon verzweifelte Erstis an, weil sie nicht wissen, wie sie das alles schaffen sollen. Da vermuten wir zunächst, dass sie bei den vielen neuen Anforderungen, die sie erleben, zu wenig Austausch haben.
Haben Sie ein Beispiel?
WUTTKE Wenn man in der Vorlesung sitzt und etwas nicht versteht, stößt man den Sitznachbarn an und fragt „Was ist damit gemeint?“oder man guckt etwas ratlos in der Gegend herum und ist relativ beruhigt, wenn andere auch lauter Fragezeichen im Gesicht haben. Jetzt, wenn man zu Hause alleine vor dem Bildschirm sitzt, hat man das Gefühl: Ich verstehe das alles nicht und ich bin der oder die Einzige, die zu blöd dazu ist. Da ist die digitale Version des Studiums wirklich schwierig. Auch „einfache“Fragen wie „Was ist ILIAS“oder „Wie viele Credit-Points brauche ich?“kann man am besten im direkten Kontakt mit Kommilitonen in der Mittagspause oder beim Wechsel des Lehrraums klären. Für die vielen neuen Ausdrücke im Studium haben meine Kolleginnen übrigens ein Campus-ABC erstellt: „Du bist neu an der Uni und verstehst nur Bahnhof?“, abrufbar unter www. hhu.de/campusabc.
Es fehlt also vor allem die Rückkopplung mit den Mitstudierenden?
WUTTKE Ja, gerade wenn man ein Studium anfängt, ist man unsicher. Dann ist es gut, sich auszutauschen. Dann merkt man, die anderen sind auch unsicher, gemeinsam sind wir stark. Das ist ja auch Teil des Studienlebens. Auch neue Leute kennenzulernen, sich ein neues Umfeld zu schaffen und dieser „Zauber des Neubeginns“. Im Online-Studium ist das schwierig. Das war auch der Uni bekannt und insofern war im Sommer geplant, dass auf jeden Fall die Erstis Präsenzveranstaltungen und direkte Erstsemestereinführungen haben sollen. Mit den strengeren Corona-Maßnahmen im Herbst war das dann leider nicht mehr möglich.
Trifft das Online-Semester vor allem auch die Studienanfänger hart, die neu in die Stadt gezogen sind? WUTTKE Ja, plötzlich sitzt man alleine in seinem Zimmer, und man kann im Grunde nichts machen. Das ist schon eine ziemlich harte Situation, auch angesichts der vielen Neuerungen, ein eigenes Leben und einen eigenen Haushalt zu führen,
Formalitäten zu erledigen, sich anzumelden: Eben alles, was es so gibt, wenn man ein neues Leben beginnt. Und das alles muss man jetzt alleine machen und man hat keine Möglichkeit, neue Leute kennenzulernen. Das ist heftig.
Sind einige Erstis deswegen lieber zu Hause wohnen geblieben? WUTTKE Wenn man noch kein Zimmer hatte, werden viele noch zu Hause geblieben sein. Und auch ältere Semester, die ihre Jobs verloren haben, mussten teils ihre Wohnung aufgeben und wieder zu den Eltern ziehen. Das wird dann aber möglicherweise zu einem anderen Konfliktfeld. Das, was mit den Eltern und beim Selbständig-Werden schon schwierig war, wird nicht besser, wenn man jetzt noch enger, noch länger aufeinander hockt, mit Homeoffice und -studying und vielleicht noch jüngeren Geschwistern. Das ist tatsächlich eine besondere Herausforderung.
Wie helfen Sie und Ihr Team von den Studierenden?
WUTTKE Was psychologische Beratung immer macht, ist erst einmal zu fragen: „Was ist das Problem?“Dies interessiert zu fragen und jemandem damit Interesse zu zeigen, ist schon die halbe Miete. Kontakte sind ja auch deshalb so wichtig, weil wir damit die Botschaft bekommen: Ich bin gerne mit dir zusammen, das, was du erzählst, interessiert mich. Das stärkt das Selbstbewusstsein. Wenn Kontakte fehlen, ist das gerade bei denen, die viel Selbstkritik und -zweifel haben, ein ziemlicher Einbruch. Wehe, wenn man mit sich alleine ist! Viele Menschen sind sich selber keine gute Gesellschaft, weil sie so viel an sich nicht gut, nicht gut genug, nicht perfekt finden. Das höre ich oft, dass viele nicht mit sich zufrieden sind und an ihrem Perfektionismus leiden, weil sie sich an einem Ideal messen, das sie nicht erfüllen können.
Wie geht es dann weiter?
WUTTKE Bei der genauen Beschreibung ihres Problems wird für viele Ratsuchende schon selber ein Lösungsansatz deutlich. Wenn man zum Beispiel merkt, dass man „zu viel um die Ohren“hat, hilft die Frage nach dem Wichtigsten, nach Prioritäten weiter. Oder die Einteilung von (zu) großen Aufgaben in kleine machbare Schritte; jeder geschaffte Schritt ist ein Erfolgserlebnis, das motiviert. Wenn man etwa Zweifel hat, ob man für eine Prüfung das Richtige und genug lernt, kann der Austausch in einer Lerngruppe weiterhelfen. Auch unser Angebot eines „Virtuellen Lernraums“unter www.hhu.de/gruppen wird gerne genutzt.
Welche Möglichkeiten haben Studierende trotz Corona, andere Leute kennenzulernen?
WUTTKE Trotz der Corona-Distanz kann man Leute kennenlernen: Gibt es vielleicht Facebook- oder Whatsapp-Gruppen oder Angebote der Fachschaften? Wir ermutigen, diese zu nutzen, Kontakte herzustellen und vor allem sich nicht zurückzuziehen, sondern nach Lösungen zu suchen, kreative Ideen zu entwickeln und zu schauen, wer dabei unterstützen könnte. Wir haben keine fertigen Lösungen, es geht auch um Hilfe zur Selbsthilfe. Es gibt zwar Anregungen, wie sie zum Beispiel in unserem „Virtuellen Beratungscenter“unter www.hhu.de/ vbc zusammengestellt sind – aber es ist die eigene Entscheidung, was man ausprobieren möchte, ob es zu einem passt.
Welche Lernstrategien könnten im Studium helfen?
WUTTKE Wenn etwa beim Lernen die Geschwister nerven, dann kann man auch spazieren gehen zum Auswendiglernen und Wiederholen des Gelernten. Die Bewegung und wechselnde Lernorte sind übrigens sehr gut, um sich Dinge zu merken, da wir ganzheitlich lernen. Die Lerntechniken zu ändern und aus dem Lernen kein „Straflager“zu machen, ist eine andere Anregung.
Was kann beim Schreiben von schriftlichen Arbeiten helfen? WUTTKE Wenn die Ratsuchenden Probleme mit dem Schreiben von Hausarbeiten, Bachelor- oder auch Promotionsarbeiten haben und diese aufschieben, dann kann das sehr unterschiedliche Gründe haben. Darauf gehen wir auch in unseren Gruppenangeboten ein. Und am 18. März findet wieder die „Nacht der aufgeschobenen Hausarbeiten“statt, die in Vorträgen, Workshops und Beratungen dafür Lösungsvorschläge macht.
Mussten Sie auch schon mal an Psychotherapeuten verweisen? WUTTKE Ja, natürlich, wir klären in den Sprechstunden auch immer ab, in wie weit eine Selbstbehandlung (durch Hilfe zur Selbsthilfe) noch möglich ist, oder ob die Probleme Teil einer Krankheit sind und daher eine Fremdbehandlung nötig ist. Dann empfehlen wir eine ambulante Psychotherapie. Und in der Uniklinik gibt es auch eine Tagesklinik und ein Ambulanzzentrum mit Sprechstunden für Studierende.
Führen Sie die Gespräche wegen Corona jetzt per Videochat?
WUTTKE Im Moment telefonisch, und ich hätte nie gedacht, dass die Beratung übers Telefon geht. Wobei ich schon auch merke, dass mindestens eine Dimension fehlt. Ich mache lieber Präsenzberatungen, weil ich dann mehr von dem spüre, was in dem Gespräch Sache ist. Aber die Telefon-Beratung hat auch Vorteile: Ich habe in meinen 30 Jahren hier noch nie eine Erasmus-Studentin im Ausland beraten, also während des Auslandssemesters.
Sind es mehr Frauen oder mehr Männer, die bei Ihnen Hilfe suchen WUTTKE Ich mache die Psychologische Beratung seit 1989 und anfangs war es tatsächlich so, dass rund Dreiviertel Frauen waren. Inzwischen ist das Verhältnis aber gut 50/50.
Was können Lehrkräfte verändern, um besser auf die Situation gerade der Erstis einzugehen?
WUTTKE Zoom-Konferenzen mit Breakouts sind eine Möglichkeit, die Studierenden untereinander in Kontakt kommen zu lassen, aber auch dass man Räume schafft für Fragestunden und Nachfragen, dass man auf Angebote hinweist oder selbst welche schafft. Wie ich gehört habe, sind inzwischen schon viele neue Formate entstanden wie Vorlesungen, bei denen man über den Chat Fragen stellen kann, etc.
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