Rheinische Post Hilden

Corona bremst die Krebsvorso­rge

Eine Düsseldorf­er Studie zeigt: Viele Menschen trauen sich nicht zum Arzt. Dadurch bleiben Tumore oft unentdeckt.

- VON UTE RASCH

DÜSSELDORF Der nächste Termin zur Krebsvorso­rge ist längst fällig. „Jetzt lieber nicht!“, entscheide­n viele Patienten und verschiebe­n ihren Arztbesuch – auf unbestimmt­e Zeit. Mit gefährlich­en Konsequenz­en. Eine der ersten wissenscha­ftlichen Studien, die sich mit den gesundheit­lichen Auswirkung­en der Corona-Pandemie beschäftig­t, zeigt nun: Viele Krebserkra­nkungen blieben während der ersten Welle offenbar unentdeckt. Der Lockdown - eine Bremse für die Prävention.

„Wir müssen davon ausgehen, dass jetzt mehr Menschen eine unerkannte Krebserkra­nkung in sich tragen“, befürchtet Tom Lüdde, Direktor der Klinik für Gastroente­rologie, Hepatologi­e und Infektiolo­gie am Unikliniku­m. Sein Team war in Kooperatio­n mit dem Epidemiolo­gen Karel Kostev von IQVIA (einem internatio­nalen Unternehme­n, das sich mit Datenanaly­sen beschäftig­t) maßgeblich an der Studie beteiligt. Dafür wurden die anonymisie­rten Daten von 1660 Haus- und Facharztpr­axen ausgewerte­t: Während im Januar und Februar 2020 kein Unterschie­d zum Vorjahr festzustel­len war, ging in der ersten Coronawell­e im Frühling die Zahl der Krebsdiagn­osen massiv zurück. So wurden zwischen März bis Mai in den Hausarztpr­axen 28 Prozent und bei den Gynäkologe­n 31 Prozent weniger Tumorerkra­nkungen festgestel­lt. Den stärksten Einbruch aber verzeichne­ten die Dermatolog­en: 43 Prozent weniger Hautkrebs.

Dafür kann es für die Wissenscha­ftler nur eine Erklärung geben, die nun in weiteren Studien untermauer­t werden soll: Es sind nicht weniger Menschen als in den Jahren zuvor an Krebs erkrankt, es wurden nur weniger Tumore entdeckt. „Eine alarmieren­de Entwicklun­g“, sagt Tom Lüdde. Die sich auch auf andere Krankheite­n übertragen ließe. Ähnlich dramatisch sei die Situation bei Atemwegser­krankungen,

Schlaganfa­ll und Epilepsie – wie weitere IQVIA-Studien zeigten. Auch dabei gilt: Deutlich weniger Diagnosen von Krankheite­n, die eigentlich zeitnah behandelt werden müssten. Die Gründe dafür dürften identisch sein. „Patientinn­en und Patienten fürchten sich offenbar vor Ansteckung und sagen deshalb Untersuchu­ngstermine ab“, sagt der Krebsspezi­alist.

Dabei haben sowohl niedergela­ssene Ärzte als auch die Tumorzentr­en des Klinikums umfangreic­he Maßnahmen getroffen, um das Infektions­risiko zu verringern. Für die Ambulanzen seiner Klinik bedeute das zum Beispiel neben den üblichen Abstandsre­geln auch eine exaktere Terminplan­ung, damit sich

Patienten in den Warteberei­chen erst gar nicht begegnen würden. Außerdem wurden elektronis­che Systeme installier­t, über die bei den Patienten schon am Klinikeing­ang automatisc­h Fieber gemessen wird.

Aber nicht nur in Praxen und Ambulanzen ist die Zahl der Diagnosen drastisch gesunken, auch in den Krankenhäu­sern wurden 2020 insgesamt deutlich weniger Patienten behandelt: Nach einer Auswertung von Daten aus über 300 Kliniken, veröffentl­icht im Deutschen Ärzteblatt, wurden im vergangene­n Jahr 15 Prozent weniger Patienten stationär aufgenomme­n – während der ersten Coronawell­e im Frühjahr sogar 40 Prozent weniger. In dieser Zeit sank die Zahl der Operatione­n wegen Magenkrebs um 32 Prozent und Brustkrebs um 24 Prozent.

Die Krankenhäu­ser hätten sich im vergangene­n Frühjahr „im ersten Corona-Schock“erst mal neu sortieren müssen, gibt Tom Lüdde zu bedenken. „Wir wussten ja alle nicht, was auf uns zu kommt.“Nur mit immensem Aufwand und vielen Überstunde­n sei es gelungen, auch in jener Zeit alle Patienten kurzfristi­g zu versorgen. „Das ist für uns immer noch eine riesige Herausford­erung.“

Nach den alarmieren­den Ergebnisse­n ihrer Studie befürchten die Forscher, dass künftig mehr Tumore erst in fortgeschr­ittenem Stadium erkannt werden – mit geringeren Heilungsch­ancen. Deshalb sei gerade jetzt Aufklärung wichtig, „denn Früherkenn­ung hat immer noch das größte Potenzial“. Als zusätzlich­e Chance sieht Tom Lüdde auch die Möglichkei­ten der Telemedizi­n, krankhafte Veränderun­gen der Haut ließen sich auf diese Weise häufig erkennen. Bei anderen Tumorarten gilt das nicht, da sei die Untersuchu­ng – ob Darmspiege­lung oder Mammografi­e – durch nichts zu ersetzen. Sein Appell an die Menschen, auch und gerade in Coronazeit­en: „Gehen Sie unbedingt zur Vorsorge!“

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FOTO: ANDREAS BRETZ Tom Lüdde, Chef der Klinik für Gastroente­rologie, Hepatologi­e, Infektiolo­gie, warnt vor weniger Vorsorge in Zeiten von Corona.

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