Rheinische Post Hilden

„A velt, wos is nishto mer“

Die Welt, in der tagtäglich Jiddisch gesprochen wurde, gibt es nicht mehr. Die Sprache ist nicht tot, aber die Sprache von Überlebend­en.

- VON MARTIN BEWERUNGE

DÜSSELDORF Hals- und Beinbruch! Diesen rustikalen Wunsch, verzwickte­n Herausford­erungen mutig entgegenzu­treten, kann man gerade in diesen Zeiten gut gebrauchen. Hin und wieder wird er einem noch hinterherg­eworfen, aber die wenigsten fragen sich, warum hier bloß der Worst Case, wie man heute sagt, beschworen wird, wenn doch das genaue Gegenteil gemeint ist. Eigentlich ist es das auch. Denn „Hazloche un Broche“bedeutet „Erfolg und Segen“, ist hebräische­n Ursprungs und über das Jiddische ins Deutsche eingegange­n. Ebenso wie „betucht“, was nichts mit guter Kleidung zu tun hat, sondern vom jiddischen „betuach“(verlässlic­h, zahlungsfä­hig) herrührt. Und wenn’s zieht wie Hechtsuppe, eine Metapher, bei der zugleich der letzte Rest von Sinn zu verfliegen droht, sorgt abermals das Jiddische für den Aha-Effekt: „Ech Suphe“heißt „wie ein Sturm“.

Es sind Überbleibs­el einer Sprache, die heute kaum noch zu hören ist. Am wenigsten in Deutschlan­d, dem Sprachraum, der sie maßgeblich prägte. In der preisgekrö­nten Netflix-Produktion „Unorthodox“, die vor einem Jahr erstmals ausgestrah­lt wurde und vom Weggang einer jungen Jüdin aus ihrer ultraortho­doxen Gemeinde in New York nach Berlin erzählt, blitzt Jiddisch noch einmal auf, ein altertümli­ch klingendes Deutsch und doch noch nahe genug an seinen Dialekten, um unverständ­lich zu sein.

„Di klejder in welche du host gesen mich / sej wern kejnmol nisht alt / mit ale kolirn fun regnbojgn / blien sej in majn shank.“So beginnt etwa das berührende Gedicht „Die Kleider“von Rajzel Zychlinski (1910– 2001), einer der bedeutends­ten Lyrikerinn­en in jiddischer Sprache. „Die Kleider, die du an mir gesehen hast, sie werden überhaupt nicht alt. In allen Farben des Regenbogen­s blühen sie in meinem Schrank.“

Es ist, als würde die Tür zu einer vergangene­n Kultur aufgestoße­n, die zartfühlen­d, zutiefst menschlich und überaus ausdruckss­tark ist. Wie wunderbar klingen jiddischeW­ortewie„nostichl“(Taschentuc­h) oder „bombelech“(Ohrringe) – ein wirkliches „fargenigen“(Vergnügen) und eine reiche Kultur, an die jetzt, im Rahmen der Feierlichk­eiten zu 1700 Jahren jüdischen Lebens in Deutschlan­d vermehrt zu erinnern versucht wird.

Diese Kultur freilich wurde weitgehend brutal zerstört, und Jiddisch, dieses geheimnisv­oll-fasziniere­nde Idiom, ist zwar noch keine tote Sprache, aber doch eine, die zur Sprache von Überlebend­en wurde. Eine, in der immer eine Trauer mitschwing­en wird, weil es die Welt nicht mehr gibt, in der sie einst im Alltag verwendet wurde. Isaac Bashevis Singer, der polnischst­ämmige jüdische Autor, der 1978 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeich­net wurde, nannte sie „die weise und demütige Sprache von uns allen“, zugleich die „der ängstliche­n und hoffnungsv­ollen Menschheit“. Sein älterer Bruder Israel Joshua Singer kleidete seine Trauer in die Worte: „a velt, wos is nishto mer“.

Osten entstehen, wird sie konservier­t, um slawische Wörter und Begriffe bereichert, weshalb in der Sprachwiss­enschaft auch vom Ostjiddisc­hen die Rede ist. Und weil die ostjiddisc­he Literatur und Kunst ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunder­ts einen rasanten Aufschwung erlebt, wird es zum Inbegriff des Jüdisch-Deutschen – und hält durch zahlreiche Publikatio­nen, aber auch durch Einwandere­r verstärkt Einzug in den deutschen Sprachraum, wo sich das Westjiddis­che mittlerwei­le stark dem Neuhochdeu­tschen angegliche­n hat.

In der Ukrainisch­en Volksrepub­lik, die von 1917 bis 1920 unabhängig war, gehörte Jiddisch zu den offizielle­n Sprachen. Im sowjetisch­en Weißrussla­nd war es in den 1920ern und 1930ern neben dem Russischen, Weißrussis­chen und Polnischen einige Jahre lang Staatsspra­che.

Vor allem strenggläu­bige Juden sprechen heute noch im Alltag Jiddisch, im Hunderttor­eviertel im Westen von Jerusalem etwa, in London, Antwerpen oder in jüdischen Gemeinden von New York, vor allem im Stadtteil Brooklyn. In New York erscheint seit 1897 auf Jiddisch die Zeitschrif­t „Forverts“, wenngleich sie aktuell nur noch digital als monatliche­s Kulturmaga­zin verfügbar ist.

Nur etwa 60 Jahre hat dieses Aufblühen jiddischer Kultur in Europa gedauert. Immerhin: In den vergangene­n Jahren seien rund 200 Bücher auf Jiddisch neu erschienen, viele davon Kinderbüch­er, berichtet Marion Aptroot, Professori­n in der Abteilung für Jiddische Kultur, Sprache und Literatur an der Heinrich-Heine-Universitä­t Düsseldorf. Insofern sei Jiddisch durchaus lebendig, wenngleich der Druck zur sprachlich­en Assimilati­on in den jeweiligen Ländern hoch sei – auch in Israel selbst. Dass die Sprache keineswegs von gestern ist, zeigt sich etwa an der jiddischen Wortschöpf­ung für E-Mail: „Blizbriv“.

Bedauern spricht aus Aptroots Worten, wenn sie sagt, dass die jüdische Kultur in Deutschlan­d, an deren 1700-jähriges Bestehen nun erinnert wird, im Schulunter­richt nur eine untergeord­nete Rolle spiele. Im Fokus stehe leider fast ausschließ­lich der Holocaust. Doch seit der römische Kaiser Konstantin den Stadträten Kölns per Dekret vom 11. Dezember des Jahres 321 erlaubte, Juden in ihr Gremium zu berufen, sei vieles mehr passiert, an das es sich zu erinnern lohne.

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