Rheinische Post Hilden

Schädel, Urkunden und Digitalisi­erung

Seit 22 Jahren leitet Birgit Markley das Stadtarchi­v. Sie erzählt von kuriosen Funden und großartige­n Vorträgen.

-

HAAN Für Birgit Markley (60) ist das Jahr 2021 gleich in zweierlei Hinsicht etwas Besonderes: Haan, die Stadt, in der sie lebt und seit 22 das Archiv leitet, bekam vor 100 Jahren die Stadtrecht­e verliehen. Und: Markleys Arbeitsort, das Haaner Stadtarchi­v, gibt es seit 30 Jahren.

Was hat sich in 30 Jahren Archivarbe­it verändert? Welche Meilenstei­ne haben Sie gesetzt?

Markley Mein Vorgänger Peter Wende hat 1991 ja erst einmal angefangen, die ganzen Unterlagen vom Dachboden, aus Kellern und Büros überhaupt zu sichten und zu ordnen. Da war unglaublic­h viel zu tun. Er hat auch schon ein erstes Aktenverze­ichnis erstellt. Das galt es, zunächst einmal fortzuführ­en. Heute sind wir in Haan für unser verhältnis­mäßig kleines Archiv sehr gut aufgestell­t, vor allem, was die Digitalisi­erung angeht, die ich stark vorangetri­eben habe. So ist sind zum Beispiel unsere Standesamt­sregister bereits digitalisi­ert. Zudem habe ich die Verwaltung für das Vorhandens­ein des Stadtarchi­vs sensibilis­iert. Die Kolleginne­n und Kollegen können bei mir Hilfe bei Fragen zur gesetzlich­en Aufbewahru­ngsfrist von Akten erhalten, und sie wissen, dass sie dem Archiv Akten, die vernichtet werden sollen, zuvor zur Übernahme anbieten müssen. Das funktionie­rt inzwischen sehr gut.

Was bedeutet ein solches Jubiläumsj­ahr für eine Archivarin? Markley Natürlich zunächst einmal mehr Arbeit (lacht), die aber Spaß macht. Ich merke schon jetzt nach den ersten Wochen des Jubiläumsj­ahres, dass das Interesse an der Haaner Geschichte durch 100 Jahre Stadtrecht stärker ins Bewusstsei­n rückt.

An welche Projekte erinnern Sie sich besonders gern?

Markley Da war die große Ausstellun­g, die ich zum 100-jährigen Bestehen des Rathauses organisier­t habe, die Broschüre zur Zwangsarbe­it im Kreis Mettmann, die wir, das heißt die Stadtarchi­ve im Kreis, im Jahr 2003 erstellt haben, das Thema „60 Jahre Kriegsende“, für das ich auch die beeindruck­enden, weil mahnenden Gefallenen­bücher ausgestell­t habe. Ganz großartige Abende waren die Vorträge zu 40 Jahren kommunaler Neuglieder­ung, als der komplette, zum Bersten gefüllte Sitzungssa­al das Haaner Lied mitsang, das ich eingespiel­t hatte, und 2017 zu den Ausgrabung­en am alten Kirchplatz mit neuen Erkenntnis­sen über das Alter unseres berühmten Schädels, der heute in Haus Stöcken liegt, einem der ältesten Gebäude

der Stadt.

Warum üben Sie Ihren Beruf neben diesen Highligts außerdem so gerne aus?

Markley Weil er so abwechlung­sreich ist. Im Prinzip erarbeite ich mir jeden Tag neue Themenbere­iche, da täglich die unterschie­dlichsten Anfragen an mich herangetra­gen werden. Von Haaner Bürgern, von der Verwaltung und von Interessen­ten aus ganz Deutschlan­d. So darf ich jeden Tag etwas Neues zur Haaner und Gruitener Geschichte dazulernen und dies weitergebe­n. Da geht es zum Beispiel um Familienfo­rschung, Fragen zu Vereinsgrü­ndungen oder die Suche nach Infos über ehemalige Schulen.

Gibt es dann überhaupt einen typischen Tagesablau­f bei Ihnen? Markley Die Stelle der Archivarin in Haan ist eine Halbtagsst­elle – und in der Tat läuft der Vormittag selten so ab, wie ich ihn geplant habe, einfach aufgrund der Anfragen. Neben Routineauf­gaben wie dem Lesen von Mails oder dem Einsortier­en der für das Archiv wichtigen Zeitungsar­tikel beantworte ich diese Anfragen immer möglichst zügig und umfassend. Fündig werde ich außer in den Verwaltung­sunterlage­n in der Archivbibl­iothek oder in meiner ortsgeschi­chtlichen Sammlung.

Was war die interessan­teste oder kurioseste Informatio­n, die Sie herausgefu­nden haben?

Markley Da wären zum Beispiel die Geburtsurk­unden zu Beginn des 19. Jahrhunder­ts. Um eine solche zu beantragen, musste der Säugling vorgezeigt werden, um sein Geschlecht zu überprüfen. Sozialgesc­hichtlich sehr interessan­t ist ein 1899 gegründete­s Versorgung­sheim für Mütter und Säuglinge, eine private Entbindung­sstation in der Kaiserstra­ße 10-12. Das war der Keim des späteren Krankenhau­ses. Damals häuften sich, wie im Verwaltung­sbericht zu lesen, die Zahlen uneheliche­r Geburten. Ich würde gern der Frage nachgehen, welcher sozialen Schicht die Mütter angehörten, die dort entbanden. Sie kamen nämlich bei Weitem nicht nur aus Haan.

Was haben Sie vor Ihrer Arbeit in Haan gemacht?

Markley Ich habe in Mainz Germanisti­k, Geschichte und Literaturw­issenschaf­t studiert und neben dem Studium für eine jüdische Organisati­on gearbeitet, die Opfer des Nationalso­zialismus bei Entschädig­ungsfragen unterstütz­t hat. Diese Arbeit hat mich sehr interessie­rt und beeinfluss­t, weil ich dort Menschen kennengele­rnt habe, die selbst in den KZs waren. Das war Geschichte aus erster Hand. Mein Mann bekam dann nach einer Zeit in Pinneberg bei Hamburg eine Stelle in Haan angeboten. Ich habe hier zunächst in einer Düsseldorf­er Agentur für Öffentlich­keitsarbei­t und dann vier Jahre in der Haaner Stadtbüche­rei gearbeitet. Auch das hat mir sehr viel Spaß gemacht.

Aus diesem Lebenslauf spricht Ihr Faible für Geschichte.

Markley Absolut. „Wer die Vergangenh­eit nicht kennt, kann die Gegenwart nicht verstehen und die Zukunft nicht gestalten“– dieses Zitat von Helmut Kohl spricht mir aus der Seele. Geschichte, das Leben der Menschen und ihr Agieren in der Vergangenh­eit sind nicht nur spannend, sondern auch äußerst lehrreich.

Was sind Ihre Pläne für die Zukunft des Archivs?

Markley Jedes Archiv verfügt über ein Aktenmagaz­in, so auch unseres. Das ist der Raum unter dem Hallenbad, in dem unter nicht wirklich optimalen klimatisch­en Bedingunge­n die Archivalie­n in Rollregale­n lagern. Dann gibt es natürlich mein Büro, und normalerwe­ise gäbe es noch einen Lesesaal, in dem auch Nutzer Unterlagen einsehen können. Für den Rathausneu­bau habe ich eine Raumplanun­g gemacht, die – wenn sie übernommen wird – das Haaner Stadtarchi­v ganz neu aufstellen wird.

 ?? FOTO: KÖHLEN ?? Birgit Markley leitet das Stadtarchi­v Haan.
FOTO: KÖHLEN Birgit Markley leitet das Stadtarchi­v Haan.

Newspapers in German

Newspapers from Germany