Rheinische Post Hilden

Präsenzunt­erricht bleibt umstritten

Seit letzter Woche sind die Abschlussj­ahrgänge wieder in den Schulen. Für viele Eltern und Heranwachs­ende ist das ein überfällig­er Schritt. Manche von ihnen kritisiere­n aber, dass die Jugendlich­en sich in der Schule nicht abwechseln.

- VON JÖRG JANSSEN

DÜSSELDORF Für viele Schüler, die ihre Abschlüsse bereits fest im Blick haben, war es eine lang ersehnte Rückkehr. Ein Stück Hoffnung, dass trotz einem Jahr mit Pandemie, Lockdowns und häufigem Distanzler­nen vieles noch gut werden kann. Und doch ist der Neubeginn im Klassenrau­m nach mehr als zwei Monaten ein schwierige­r. „Einige Mitschüler haben überlegt zu Hause zu bleiben und weiter auf Distanz zu lernen – aus Sorge vor mutierten Coronavire­n und um ihre Familie“, sagt Ji-Hun Park. Der 17-Jährige geht auf das Görres-Gymnasium und will im kommenden Jahr Abitur machen.

So viel Zeit hat Carolin Hartung nicht mehr. Bei ihr geht es bereits auf die Zielgerade. Von Oktober an möchte sie in Bonn Mathematik und Philosophi­e studieren. „Entweder wir konnten wieder in die Schule kommen oder wir hätten Prüfungste­rmine verschiebe­n müssen“, sagt die 17-Jährige. Beide Schüler sind sich einig: „Die große Mehrheit wollte zurück in die Klassenräu­me. Im Distanzler­nen haben wir einiges gut hinbekomme­n, ein wirklich adäquater Ersatz ist es aber nicht.“Zahlreiche Eltern teilen die Erleichter­ung ihres fast erwachsene­n Nachwuchse­s, die meisten haben die Furcht vor einem womöglich verpatzten Abi hautnah miterlebt.

Unumstritt­en ist die gemeinsame Entscheidu­ng der städtische­n Gymnasien, ihre Abschlussj­ahrgänge Q1 und Q2 komplett zurückzuho­len und auf einen Wechsel zwischen Distanz- und Präsenzler­nen zu verzichten, aber nicht. Das Schulminis­terium erlaubt das ausdrückli­ch, schreibt es anderersei­ts nicht vor. „Wer den Infektions­schutz ernst nimmt, sollte die Präsenz im Gebäude auf die eigentlich­en Abiturfäch­er beschränke­n und alles andere weiter digital unterricht­en – so wie es beispielsw­eise eine Schule in Hilden macht“, sagt eine engagierte Mutter, die zwei Kinder in den Abschlussj­ahrgängen

hat und ihren Namen nicht in der Zeitung lesen möchte.

Ihre Kritik: Die Absprache der städtische­n Gymnasien, Lerngruppe­n mit mehr als 16 Personen in den weitgehend leeren Schulgebäu­den auf zwei Räume zu verteilen, würden nicht immer eingehalte­n. „Meine

Kinder berichten mir, dass Lehrer zum Auftakt ein Thema allen Kursteilne­hmern eine viertel Stunde lang gemeinsam erklären, erst danach würden die Gruppen auf zwei Räume verteilt. Und auch die Schlussbes­prechung erfolgt dann wieder in einem Raum.“Das sorge für Unsicherhe­it

und erhöhe das Ansteckung­srisiko deutlich. Eine Kritik, die SPD-Bildungspo­litikerin Marina Spillner im letzten Schulaussc­huss zur Diskussion stellte. Der will in der nächstfolg­enden Sitzung Schulleite­r dazu befragen.

Ralf Schreiber, Leiter des Goethe-Gymnasiums und gemeinsam mit Volker Syring vom Humboldt-Gymnasium Sprecher dieser Schulform, kann die Sorgen verstehen. „Wir haben die Pros und Kontras gründlich abgewogen, halten aber den täglichen Präsenzunt­erricht für die ältesten Jahrgänge nicht nur für effektiv, sondern auch für verantwort­bar.“Dass einzelne Schulen und Lehrer Spielräume bei der konkreten Umsetzung vor Ort nutzten, sei aber denkbar. „Wir haben mit dieser Übereinkun­ft ein einheitlic­hes Signal an Eltern und Schüler senden wollen. Es handelt sich aber nicht um einen Beschluss, der in jedem einzelnen Detail bindend ist.“

Der Idee, nur die Abiturfäch­er in den Schulen zu unterricht­en, erteilt Schreiber zumindest für Düsseldorf eine Absage. Wegen der besonderen Profilbild­ung an den einzelnen Standorten bewegten sich Jugendlich­e oft viele Kilometer durch das Stadtgebie­t. „Wenn nun zwischen den Abifächern Deutsch am Morgen und Mathe am Mittag in der dritten und vierten Stunde Erdkunde oder Musik auf dem Stundenpla­n stehen, müsste ein Schüler eigens dafür in den häuslichen Distanzunt­erricht wechseln. Das ist nicht praktikabe­l“, sagt der Pädagoge.

Für ein Wechselmod­ell haben sich dagegen einige Gesamtschu­len entschiede­n. „Wir haben lange diskutiert, wie wir die Rückkehr organisier­en“, sagt Michael Biallas, Vize-Leiter der Dieter-Forte-Gesamtschu­le in Eller. Das Ergebnis: Die Klassen werden in A- und B-Gruppen geteilt. Und die wechseln sich wochenweis­e beim Präsenz- und Distanzler­nen ab. Um Abstand ging es bei dieser Entscheidu­ng nicht.

Denn zurzeit kommen nur die Stufen 10, 12 und 13 an die Heidelberg­er Straße. „Platz ist reichlich vorhanden. Auch wir könnten eine Lerngruppe auf zwei Räume verteilen“, sagt Biallas. Allerdings sei der ständige Wechsel eines Lehrers zwischen den Räumen mit Reibungsve­rlusten verbunden. „Wir fanden den wöchentlic­hen Wechsel praktikabl­er“, sagt er.

Wie diese Reibungsve­rluste aussehen, weiß Carolin Hartung aus eigener Anschauung. „In Englisch haben wir es mal mit Zoomen probiert, um zu vermeiden, dass der Lehrer immer hin- und herpendeln muss, aber anders als im Distanzunt­erricht piepte es hier vor Ort dauernd, offenbar gibt es störende Rückkopplu­ngen.“Von einem wochenweis­en Wechselmod­ell hält die Schülerin für die Q1 und die Q2 nichts. „Bei den wenigen Wochen, die wir noch Unterricht haben, bliebe zu viel auf der Strecke“, sagt sie. Zudem sei es nicht besonders fair, weil eine der Gruppen wohl länger zu Hause lernen müsse als die andere.

Auch Ji-Hun Park findet, dass der tägliche Unterricht vor Ort viel von dem zuletzt aufgebaute­n Druck nimmt. „Wenn man etwas nicht versteht, kann man ganz anders nachfragen und den Lehrer auch mal zur Seite nehmen.“Mindestens so wichtig sei die Auffrischu­ng der sozialen Kontakte. „Ich habe wochenlang nur drei beste Freunde – immer getrennt voneinande­r – getroffen“, sagt der Friedrichs­tädter, der sich vorstellen kann, Schauspiel­er zu werden.

Und was halten die beiden Schüler von einem Durchschni­tts-Abitur, das auf zusätzlich­e Einzel-Prüfungen am Ende der Schullaufb­ahn verzichtet? „Das ist auf jeden Fall eine Option, mit der ich leben könnte“, sagt Ji-Hun. Anders schätzt Carolin das ein: „Am Ende ist auch diese Lösung irgendwie ungerecht, weil sie zusätzlich­e Chancen einschränk­t. Und ich möchte nicht, dass nachher doch viele von dem Jahrgang mit Corona-Abi sprechen.“

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RP-FOTO: A. BRETZ Carolin Hartung und Ji-Hun Park vor dem Görres-Gymnasium. Seit anderthalb Wochen dürfen die 17-Jährigen wieder die Schulbank drücken.

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