Rheinische Post Hilden

Kinderqual­en im Kurheim

Zur Therapie sind Kinder bis in die 90er-Jahre in die Einrichtun­gen geschickt worden. Doch dort erfuhren sie auch Demütigung und Missbrauch, berichten Betroffene. In Bad Sassendorf hat die Aufarbeitu­ng der Geschehnis­se in einem ehemaligen Heim begonnen.

- VON MARK PILLMANN

BAD SASSENDORF Die Reise in die Kinderkurh­eime begann am Bahnhof. „Ohne irgendeine Erklärung oder Vorwarnung wurden wir in den Zug gesetzt“, erinnert sich Claudia*, die 1975 in der Kinderkur war. Das Ziel des Zuges war Haus Hamburg in Bad Sassendorf bei Soest. Die in den 20er-Jahren gebaute Kinderkurk­linik präsentier­t sich auf alten Postkarten als modernes Gebäude in strahlende­m Weiß. Es lag am Stadtrand, neben einem Wildpark.

Die Gründe für die Kuren waren vielfältig: Einige Kinder wurden verschickt um ab-, andere um zuzunehmen. Auch Atemwegser­krankungen oder Bettnässen konnten Ursache sein, um vom Arzt eine Empfehlung für die Kur zu bekommen.

Wer Bettnässer war, bekam abends oft nichts mehr zu trinken, berichten Betroffene. Doch das erzielte nur selten den gewünschte­n Erfolg. Als Claudia eines Nachts auf die Toilette wollte, wurde sie von den „Tanten“, wie die Pflegerinn­en genannt wurden, davon abgehalten – und machte prompt ins Bett, erinnert sie sich. „Ich hatte solche Angst, dass ich mir von einem Mädchen eine Unterhose und eine Pyjama-Hose lieh und in meinem nassen Bett neben dem Fleck versuchte, weiter zu schlafen“, erzählt sie. „Dafür bekam ich wieder Ärger und auch schon am Nachmittag nichts mehr zu trinken.“

Nach dem Aufstehen ging es für die Kinder zum Frühstück. Das Essen haben viele der Betroffene­n noch sehr genau in Erinnerung. Im Haus Sassendorf wurde zum Frühstück Caro-Kaffee serviert, der getrunken werden musste. Zum Abendessen gab es dem Grund der Kur entspreche­ndes Essen: Wer abnehmen sollte, bekam weniger, wer zunehmen sollte, mehr. Die Kinder passten sich schnell an und teilten die Portionen. Denn: Es musste aufgegesse­n werden. Wer seine Portion nicht aufbekam, musste so lange sitzen bleiben, bis der Teller leer war – egal, was drauf war. Georg* war 1955 als Fünfjährig­er in Bad Sassendorf. „Dort musste ich Erbrochene­s weiter essen“, berichtet er heute.

Regelmäßig mussten die Kinder ihren Eltern Postkarten schreiben. Wer nicht schreiben konnte, diktierte den Text. Frei schreiben durften die Kinder nicht. Wer seinen Eltern von Heimweh, Hunger oder den traumatisc­hen Erlebnisse­n berichtete­n wollte, bekam die Karte durchgeris­sen. Der nächste Versuch wurde dann von den „Tanten“diktiert.

Briefe und Pakete, die von zu Hause an die Heime geschickt wurden, wurden teilweise zurückgeha­lten oder unter dem Personal aufgeteilt. „Die schönen Briefe, die meine Mutter

mir immer geschriebe­n hat, bekam ich erst in meinen Koffer gelegt, als wir abreisten“, sagt Claudia. „Dass sie mir immer Comics und Kinderbild­er ausgeschni­tten und die Briefe damit verziert hat, habe ich erst hinterher gesehen.“

In den Kurheimen wurden zudem Therapie- und Behandlung­smaßnahmen durchgefüh­rt. Als Solekurort gab es in Bad Sassendorf einen Sole-Raum, in dem salzhaltig­e Luft inhaliert wurde. Auch Solebäder hat es gegeben. „War man fertig, wurde man mit einem Saunakübel eiskaltem Wasser übergossen“, sagt Petra*, die 1979 in Kur war. „Bis heute erschrecke ich, wenn mich jemand mit kaltem Wasser bespritzt.“

Am Nachmittag ging es in den Kurpark. „Dort mussten wir in einen dunklen Gang gehen“, sagt Claudia – das Gradierwer­k des Solekurort­s. „Wir haben uns sehr gefürchtet, viele haben geweint, davon hat aber keiner Notiz genommen, weil wir diesen Gang allein durchgehen mussten. Es war dunkel, tropfte von der Decke und es war sehr kalt. Wir hörten gruselige Stimmen.“

So schlimm es in der Kinderkur auch gewesen sein mag – für einige Betroffene begannen die eigentlich­en Probleme erst zu Hause. Wer von seinen Erlebnisse­n im Heim berichtete, dem wurde oft nicht geglaubt. Die Geschichte­n wurden als Kindermärc­hen abgetan.

Viele Betroffene berichten, dass sie sich nur bruchstück­haft an die Erlebnisse erinnern können. Andere, wie Maria*, haben ihre Erinnerung ganz verloren. Sie war 1973 als Zehnjährig­e im Haus Hamburg. Erinnern könne sie sich an nichts, was vor ihrem 14. Lebensjahr passierte. „Seit November letzten Jahres bin ich bei einem Arzt in Hypnosethe­rapie, um meine komplett ausgelösch­ten Kindheitse­rinnerunge­n hervorzuho­len“, sagt Maria. „Ich denke, von uns ‚Erinnerung­slosen’ gibt es eine große Anzahl.“

Doch Haus Hamburg hat noch ein weiteres Problem: „2004 fragte mich eine Psychother­apeutin in ihrer Anamnese, was ich über das Alter von sechs Jahren wusste“, sagt Petra*. „Ich sagte nur ‚Nichts, es ist wie ein schwarzes Loch’.“Fünf Jahre später kamen die Erinnerung­en im Rahmen einer Traumather­apie wieder hoch. „Damals hat mich ein Arzt mehrmals sexuell oral missbrauch­t, während ich krank alleine in einem Zimmer mit karierter Bettwäsche lag“, sagt Petra. „Er drohte mir, es sei besondere Medizin, und wenn ich es nicht tun würde, würde ich meine Eltern und Geschwiste­r nie wiedersehe­n.“Bisher handelt es sich dabei um einen Einzelfall, sagt die

DAK, die das Haus ab 1960 betrieben hat. Weitere Berichte über Missbrauch im Haus Hamburg habe es noch nicht gegeben.

Als eine der ersten Trägerinne­n der Kinderkurh­eime hat die DAK die Betroffene­n Ende vergangene­n Jahres öffentlich um Verzeihung gebeten, Hilfe angeboten und Aufklärung angekündig­t. „Wir haben damit begonnen, alle Hinweise von Betroffene­n zu sammeln“, sagt Pressespre­cher Jörg Bodanowitz. Die DAK arbeite in vollem Umfang mit den Betroffene­n zusammen – doch die Pandemie mache die Aufklärung­sarbeit schwierig. Persönlich­e Treffen sind derzeit nicht mehr möglich. Trotzdem arbeite die Krankenkas­sen nach wie vor mit Hochdruck an der Aufklärung. Als nächstes soll etwa eine Stelle für einen Wissenscha­ftler ausgeschri­eben werden, der die Aufklärung betreut.

Heute existiert das Haus Hamburg in Bad Sassendorf nicht mehr. Die Gebäude wurden abgerissen und durch eine moderne Reha-Klinik ersetzt. Übrig geblieben sind nur die Erinnerung­en, ein paar Postkarten und Schriftstü­cke.

* Alle Namen der Betroffene­n von der Redaktion geändert.

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REPRO: GEMEINDEAR­CHIV BAD SASSENDORF Eine Ansichtska­rte zeigt das historisch­e Gradierwer­k, durch das Kinder des Kurheims als Therapiema­ßnahme laufen mussten.

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