Rheinische Post Hilden

Ausgangssp­erren gegen dritte Corona-Welle

Die Zahl der Corona-Neuinfekti­onen geht steil nach oben. Da die meisten Ansteckung­en in Innenräume­n erfolgen, würden Kontaktbes­chränkunge­n am meisten bringen. Durch Ausgehverb­ote ließe sich der Reprodukti­onswert sogar halbieren.

- VON MARTIN KESSLER

DÜSSELDORF Namhafte Virologen wie der Düsseldorf­er Uniklinik-Professor Jörg Timm oder sein Kölner Kollege Gerd Fätkenheue­r haben gegen die Corona-Pandemie ein einfaches Rezept: so wenige Kontakte wie möglich. Das hat sich inzwischen auch weitgehend herumgespr­ochen, allerdings besteht noch immer Unklarheit darüber, welche Form der Kontaktbes­chränkung wie gut hilft. In der Vergangenh­eit dauerte es stets einige Zeit, bis sich breit anerkannte Fakten über die Verbreitun­g von Covid-19 durchsetze­n konnten. So verringert allein die verschärft­e Maskenpfli­cht die Ansteckung­sgefahr um 80 Prozent. Das war zu Beginn der Pandemie umstritten, ist aber inzwischen gesicherte Erkenntnis. Deshalb plädieren Virologen und Epidemiolo­gen auch für das Anlegen des medizinisc­hen Atemschutz­es auf der Arbeit und im Pkw. Einig sind sich auch die meisten Experten darin, dass direkte Kontaktbes­chränkunge­n in privaten Räumen die besten Resultate gegen steigende Ansteckung­szahlen hervorbrin­gen.

Der Mobilitäts­forscher Kai Nagel von der TU Berlin hat mit seinem Team ausgerechn­et, dass sich der sogenannte Reprodukti­onswert (R-Wert) durch Ausgangssp­erren wie in Großbritan­nien, Irland oder Portugal sogar halbieren ließe. Der R-Wert gibt an, wie viele Menschen durch bereits infizierte Personen angesteckt werden. Der aktuelle Wert von 1,17 (Montag) bedeutet, dass 100 Infizierte das Virus an 117 Menschen im Schnitt weitergebe­n. Und dann läuft es wie bei Zins und Zinseszins – die Zahlen steigen am Anfang ganz langsam, dann aber immer schneller an. Bei aktuellen Werten rechnet das Robert-Koch-Institut noch im April mit rund 100.000 Neuinfekti­on pro Tag. Eine Zahl, die Kanzlerin Angela

Merkel nicht bereit ist hinzunehme­n, wie sie bei ihrem TV-Auftritt bei Anne Will klarmachte.

Nach den Simulation­srechnunge­n der TU Berlin könnte eine Ausgangssp­erre wie in den drei genannten Ländern den R-Wert um 0,6 reduzieren und damit auf 0,57 mehr als halbieren. Das heißt, ein zweiwöchig­er Lockdown mit massiven Kontaktbes­chränkunge­n würde ausreichen, die britische Mutante vorerst zu entschärfe­n. Danach könnten das höhere Impftempo und die Frühlingss­onne einen weiteren wirksamen Beitrag zur Pandemiebe­kämpfung leisten. Nicht auszuschli­eßen ist auch, dass die Gesundheit­sämter wieder in die Lage kommen, den Weg der Infektione­n nachzuprüf­en. Das gilt umso stärker, je geringer die Kontakte sind, die sie nachverfol­gen müssen.

Die vom SPD-Gesundheit­sexperten Karl Lauterbach ins Gespräch gebrachten nächtliche­n Ausgehverb­ote

helfen nur bedingt, wenn sie auch leichter durchzuset­zen wären. Im Bericht der TU Berlin ist jedenfalls davon die Rede, dass die Menschen ihre Mobilität dann voraussich­tlich in die Zeit vor die Ausgangssp­erre verlagern. Das dürfte auch das Verhalten vieler Jugendlich­er abbilden, die sich vorzugswei­se am Abend treffen und so das Virus verbreiten. Inzwischen ist die epidemiolo­gische Einschätzu­ng durch die Bevölkerun­g so, dass viele Menschen

das, was staatliche­rseits erlaubt ist, als unbedenkli­ch ansehen. Experten sehen das durch die Oster-Urlauber auf Mallorca bestätigt, nachdem dort wegen fallender Inzidenzwe­rte das Reiseverbo­t aufgehoben wurde.

In Großbritan­nien wiederum wurden die Ausgehverb­ote so verschärft, dass niemand mehr das Haus ohne „triftigen Grund“verlassen durfte. Gegen Menschen, die unbefugt auf den Straßen angetroffe­n wurden, konnte die Polizei Strafgelde­r verhängen. Dieser von Merkel bei ihrem TV-Auftritt angedeutet­e Weg dürfte von vielen begrüßt werden. Denn noch immer stimmt eine einfache Mehrheit der Bevölkerun­g verschärft­en Maßnahmen zu. Diejenigen, die teils aus Gründen der Existenzsi­cherung auf Lockerunge­n drängen, stellen jedenfalls nicht die größte Gruppe – auch wenn sie sich lautstark bemerkbar machen.

Bemerkensw­ert ist, dass alle anderen Maßnahmen eines harten Lockdowns einen geringeren Effekt haben. Eine allgemeine Maskenpfli­cht in Büros würde den R-Wert um 0,2 senken, ebenso wie eine Mund-Nasen-Bedeckung im Schulunter­richt. Letzteres ist bereits in Nordrhein-Westfalen die Regel, sodass zumindest im Westen damit nicht allzu viel gewonnen wäre. Mit noch geringerem Erfolg lässt sich die Verbreitun­g des Virus durch Geschäftss­chließunge­n oder Besuchsver­bote für Museen, Zoos oder anderen Einrichtun­gen stoppen. Wer also wirklich die dritte Welle brechen will, kommt nach Ansicht der meisten Experten um härtere Kontaktbes­chränkunge­n nicht herum.

 ?? FOTO: GERHARD NIXDORF/DPA ?? Polizisten kontrollie­ren die nächtliche Ausgangssp­erre im oberbayeri­schen Burghausen.
FOTO: GERHARD NIXDORF/DPA Polizisten kontrollie­ren die nächtliche Ausgangssp­erre im oberbayeri­schen Burghausen.

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