„Impfpflicht kann nur das letzte Mittel sein“
Der frühere Bundesverfassungsrichter sieht Ausgangssperren skeptisch und lehnt ein Ausreiseverbot in Ferienländer ab.
Herr Di Fabio, das wichtigste Gremium in der Corona-Krise sind die Runden der Ministerpräsidenten mit der Kanzlerin. Davon steht aber nichts in der Verfassung. Läuft da etwas grundlegend falsch?
DI FABIO Nein. Der Verfassungsstaat erlaubt auch informelle Koordinationsgremien. Da die Länder für die Pandemiebekämpfung vor Ort zuständig sind, müssen sich die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten abstimmen. Ein für solche Fälle vorgesehener Krisenstab mit Beamten aus Bund und Ländern, die dann immer bei ihren Regierungschefs nachfragen müssten, wäre viel schwerfälliger.
Kritiker bemängeln, dass die Ministerpräsidentenkonferenz ihre Kompetenz überschreitet.
DI FABIO Das sehe ich anders. Die Umsetzung erfolgt ja im förmlichen Weg der Gesetz- und Verordnungsgebung. Ich halte aber die Forderung nach mehr parlamentarischer Mitsprache für nachvollziehbar. Eine solche Kritik fand wenig Widerhall, als im vergangenen Jahr die meisten mit der Regierungspolitik noch ganz zufrieden waren. Jetzt gibt es Unmut über die Beschlüsse dieses Gremiums, und das schlägt bei uns leicht um in eine Kritik am Föderalismus. Kritik an konkreter Politik sollte nicht immer gleich zu einem Verfassungsproblem gemacht werden.
Bei den Corona-Maßnahmen waren die Länder oft sehr zögerlich. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat nun das Infektionsschutzgesetz ins Spiel gebracht, um die Länder zu umgehen. Wäre das sinnvoll?
DI FABIO Wenn der Bund mehr Einheitlichkeit will, dann kann er im Infektionsschutzgesetz Notfallmaßnahmen und Notbremsen mit festen Parametern verankern, um die Verwaltungskompetenz der Länder bei der Ausführung des Gesetzes stärker einzuschränken. Mehr Einheitlichkeit über zentrale Regelungen könnte aber auch zu einem Verlust an Reaktionsschnelligkeit führen.
Mehr Bundeskompetenz wird von einigen Verfassungsrechtlern begrüßt. Auch in der Bevölkerung gibt es dafür eine starke Stimmung.
DI FABIO Der zunächst schleppende Impfvorgang hat zu Unmut geführt, ebenso wie einige Managementfehler und auch schlichte Überraschungen im Pandemieverlauf. Zentral geführte Staaten wie Frankreich stehen aber nicht besser da. Genauere Vorschriften im Infektionsschutzgesetz können gewiss ein Vorteil sein. Aber ich warne davor, sich zu viel davon zu versprechen. Denken Sie nur daran, dass neue Erkenntnisse der Wissenschaft oder mögliche Lockerungen bei höheren Impfquoten dann jedes Mal zu einer Gesetzesänderung führen müssten.
Gegen die britische Mutante helfen wohl nur schärfere Kontaktbeschränkungen. Hätten Sie ein Problem mit Ausgangssperren?
DI FABIO Ich habe ein ungutes Gefühl, wenn solche weitreichenden
Grundrechtseinschränkungen verfügt werden. Es kommt darauf an, wie groß die Gefahr und wie wirksam oder notwendig eine solche Maßnahme ist. Hier muss abgewogen werden. Deshalb sollten wir darauf hören, was die Intensivmedizin uns aus der Praxis sagt. In dem Augenblick, in dem das medizinische Versorgungssystem vor dem Kollaps steht, kann der Staat sehr weitreichend in Grundrechte eingreifen. Dazu gehören auch Ausgangssperren. Das ist aber eine der Maßnahmen, die man nur verhängen darf, wenn schonendere Mittel nicht mehr greifen. Wir sind im Augenblick noch in einer pandemischen Engstelle, aber ich hoffe darauf, dass wir bald Erfolge über ein höheres Impftempo spüren.
NRW-Ministerpräsident Laschet hat eine Testpflicht für die Schulen eingeführt. Bedenken?
DI FABIO Für die Länder war es eine prioritäre Aufgabe, Schulen und Kitas offenzuhalten. Das mag angesichts steigender Infektionszahlen nicht durchzuhalten sein. Andererseits können wir nicht auf Dauer eine Generation vom schulischen Unterricht fernhalten. Hier wäre eine Pflicht zu Corona-Tests das mildere Mittel und verfassungsrechtlich unbedenklich. Denn anders als beim Impfen ist die körperliche Unversehrtheit nicht oder doch kaum betroffen.
Eine Impfpflicht lehnen Sie ab?
DI FABIO Impfen führt zu einem Eingriff in die körperliche Unversehrtheit. Wer sich impfen lässt, setzt auf eine Immunantwort und muss unter Umständen auch mit Nebenwirkungen rechnen. Gleichzeitig tut diese Person nicht nur etwas für sich, sondern auch für andere, für die Gemeinschaft, weil sie weit weniger ansteckend sein dürfte. Es kann also eine sittliche Verantwortung geben, sich impfen zu lassen. Eine Rechtspflicht einzuführen, wäre verfassungsrechtlich unter bestimmten Umständen möglich, sollte aber nur letztes Mittel sein. Ich vertraue auf eine ausreichend hohe Impfbereitschaft.
Sollen die jetzt eingeschränkten Grundrechte für Geimpfte wieder unbeschränkt gelten?
DI FABIO Wenn feststeht, dass von einem Menschen keine Übertragungsgefahr ausgeht, darf er dem Grunde nach nicht mehr in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden. Bei bestehender Beurteilungsunsicherheit kann etwas anderes gelten, aber allgemeine Solidaritätsappelle rechtfertigen hier keine Grundrechtseingriffe mehr.
Reisen nach Mallorca sind erlaubt, an die Ostsee aber nicht. Ist das nicht widersinnig?
DI FABIO Auch Spanier, die auf dem Festland leben, ärgern sich darüber, dass sie anders als Deutsche nicht auf „ihre“Insel dürfen. Jedes Land versucht, das Infektionsgeschehen auf dem eigenen Territorium zu verlangsamen. Die Schließung der Grenzen im internationalen Verkehr ist zwar grundsätzlich aus Gründen des Infektionsschutzes möglich, aber eine sehr weitreichende Maßnahme. Zudem gilt: Wenn Deutschland für Mallorca mit einer bislang niedrigen Inzidenz die Ausreise untersagen würde, müsste das schon aus Gleichheitsgründen auch für alle Länder gelten, also ein allgemeines Ausreiseverbot.
Wäre das sinnvoll?
DI FABIO Aus rechtlicher Sicht wäre ein allgemeines Reiseverbot nur erlaubt, wenn das die Pandemie-Lage wirklich erfordert. Solche intensiven Maßnahmen müssen geeignet und vor allem notwendig sein, um das Infektionsgeschehen unter Kontrolle zu halten. Solange eine solche Lage epidemiologisch nicht feststeht, müssen wir akzeptieren, dass Menschen nach Mallorca fliegen, dort Urlaub machen und sich zum Rückflug dann testen lassen. Dass wir Daheimgebliebenen ein wenig neidvoll schauen, wenn andere in der Sonne liegen, ist jedenfalls kein rechtliches Kriterium.