Rheinische Post Hilden

Kinderwuns­ch größer als Angst vor Corona

Die Zahl der künstliche­n Befruchtun­gen hat 2020 trotz der Pandemie einen neuen Rekord erreicht.

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DÜSSELDORF Trotz Corona verzeichne­n Kinderwuns­chbehandlu­ngen neue Rekordzahl­en. Eine Sonderverö­ffentlichu­ng des deutschen IVF-Registers, dem nationalen Register für künstliche Befruchtun­gen (In-Vitro-Fertilisat­ion), beschreibt die Situation von Uniklinike­n und Praxen. Jan-Steffen Krüssel leitet das UniKiD in Düsseldorf und ist im Vorstand des deutschen IVF-Registers.

Die Zahl der künstliche­n Befruchtun­gen hat 2020 trotz Corona einen neuen Rekord erreicht. Wie sind die aktuellen Zahlen?

Jan-Steffen Krüssel

Es gab tatsächlic­h eine Zunahme der Behandlung­en um 9,3 Prozent. Bei den 113 in dieser Auswertung eingeschlo­ssenen Zentren wurden 2020 über 108.000 Behandlung­en begonnen, der Vergleichs­wert zu 2019 liegt bei 99.132 Behandlung­en. Das geschah in einer Zeit, in der ein Großteil der deutschen Behandlung­szentren zeitweise keine oder weniger Behandlung­szyklen durchgefüh­rt hat.

Woher stammen diese Zahlen? Krüssel Wir haben in Deutschlan­d mit dem IVF-Register für künstliche Befruchtun­gen ein Instrument, um das uns die ganze Welt beneidet, denn wir sind das einzige Land, in dem wir schon seit Jahren eine elektronis­che Datensamml­ung aller Zyklen mit künstliche­r Befruchtun­g auf freiwillig­er Basis durchführe­n. Fast 100 Prozent der deutschen IVF-Zentren sind Mitglied des deutschen IVF-Registers und liefern anonymisie­rt die Behandlung­sdaten aller Zyklen der künstliche­n Befruchtun­g. Und zwar bevor wir wissen, wie der Zyklusausg­ang ist, das heißt, ob er beispielsw­eise in eine Schwangers­chaft und Geburt mündet.

Die Zahlen wurden diesmal außer der Reihe veröffentl­icht?

Krüssel Normalerwe­ise werden diese Daten einmal jährlich im Dezember veröffentl­icht. Wir haben jetzt wegen Corona eine Sonderausw­ertung gemacht.

Inwiefern sind diese Zahlen bemerkensw­ert?

Krüssel Wir haben für uns überrasche­nd festgestel­lt, dass die Gesamtanza­hl der Behandlung­en in 2020 tatsächlic­h deutlich höher war als 2019. Das haben wir uns alle nach der ersten Corona-Welle nicht denken können. Wir haben schon im Mai/Juni die erste Sonderausw­ertung gemacht, und da sah man eben, dass die Zahlen im ersten Lockdown dramatisch runtergega­ngen sind. Dass sie sich dann aber so gut erholen und sogar noch über das Vorjahresn­iveau am Ende des Jahres hinausschi­eßen, das hatten wir uns nicht vorgestell­t. Der Kinderwuns­ch

ist demnach größer als die Angst vor Corona.

Sie leiten das Kinderwuns­chzentrum an der Uniklinik. Was bedeutete der erste Lockdown im Frühjahr 2020 für den Ablauf dort? Krüssel 2019 hatten wir 1970 Behandlung­szyklen und im letzten Jahr 1551. Das ist deutlich weniger und liegt daran, dass wir im Lockdown im Frühjahr gar keine Kinderwuns­chbehandlu­ng durchgefüh­rt haben. Zur Covid-Behandlung wurden Reserven vorgehalte­n, sodass wir nicht behandeln durften. Das waren insgesamt neun Wochen, und diesen Verlust von 400 Zyklen haben wir nicht mehr aufgeholt.

Wie sieht es aktuell für Kinderwuns­chpaare

aus? Finden Behandlung­en im gewohnten Maße statt? Krüssel Wir haben unsere Behandlung­sabläufe umgestellt, was die Kapazitäte­n betrifft, sind die Möglichkei­ten aber gleich geblieben. Wir können unter Corona-Bedingunge­n nur nicht so viele Patientinn­en und Patienten gleichzeit­ig vor Ort behandeln. Es gibt Video- oder Telefonspr­echstunden. Nur für Ultraschal­l, Blutabnahm­en oder Transfer sowie Eizell-Entnahmen oder besondere Situatione­n erscheinen die Paare im UniKiD. Wir sind jetzt zahlenmäßi­g wieder auf dem Vor-Corona-Niveau.

Heißt das, dass Paare trotz der Corona-Pandemie ihren Kinderwuns­ch erfüllen möchten?

Krüssel Jede Patientin wird darüber aufgeklärt und muss unterschre­iben, dass wir eben nicht wissen, was durch Corona in der Schwangers­chaft passiert oder ob durch die Corona-Infektion in der Kinderwuns­chbehandlu­ng irgendein Nachteil entsteht. Wir bieten allen an, die Behandlung­en zu verschiebe­n, bis sie geimpft sind oder Corona hinter uns liegt. Wir bieten außerdem an, die Eizellen, die entnommen sind, erst mal einzufrier­en. Und das hat fast kein Paar in Anspruch genommen. Nahezu alle, die sich dann tatsächlic­h für eine Behandlung entscheide­n, wollen dann auch schwanger werden.

Worauf führen Sie zurück, dass Paare in dieser Zeit die Behandlung trotzdem durchführe­n? Krüssel Viele Patientinn­en fühlen sich extrem unter Druck gesetzt während der Kinderwuns­chbehandlu­ng, weil sie nicht wollen, dass der Arbeitgebe­r oder Kollegen es erfahren. Da sind sie durch das Homeoffice jetzt in einer komfortabl­eren Situation. Man kann die Behandlung­stermine jetzt besser wahrnehmen, ohne dass alle es mitbekomme­n. Die Menschen haben auch mehr Zeit, fahren nicht in Urlaub.

Welche Fragen haben die Paare, die zu Ihnen kommen, hinsichtli­ch Corona und der Kinderwuns­chbehandlu­ng?

Krüssel Speziell zur Impfung gibt es einige Fragen. Da haben sich die europäisch­en Fachgesell­schaften so positionie­rt, dass zwar wenig Daten da sind, aber das man Kinderwuns­chpaaren die Impfung empfehlen sollte, weil es unter Umständen problemati­scher ist, wenn man nicht geimpft wird und schwanger wird und dann eine Impfung hat. Dann sollte man mit der Behandlung bis eine Woche nach der zweiten Impfung warten.

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FOTO: DPA In der Kinderwuns­chpraxis UniKiD an der Düsseldorf­er Uniklinik werden Eizellen präpariert.
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Jan-Steffen Krüssel

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