Meinungen aushalten
Wie gehen wir richtig mit abstrusen oder gar verrückten Ansichten um?
Gerade ist die Woche der Meinungsfreiheit zu Ende gegangen. Jeder bekennt sich zur Meinungsfreiheit. Natürlich will kein vernünftiger Mensch Meinungen anhören, die falsch oder menschenfeindlich sind. Lassen wir den englischen Philosophen John Stuart Mill dazu Stellung nehmen. Zunächst mit einer Gegenfrage: Woher wissen wir das? „Wenn jemand einer Meinung das Gehör verweigert, weil er überzeugt ist, dass sie falsch sei, so setzt er voraus, dass seine Überzeugung gleichbedeutend mit absoluter Sicherheit sei“, so Mill. Auch wenn wir theoretisch um unsere Fehlbarkeit wissen, stellen wir das praktisch allerdings eher selten in Rechnung.
Wir benehmen uns, als könnten wir es ausschließen, dass die Meinung, die wir verabscheuen, sich möglicherweise als die richtige oder die letztlich menschenfreundlichere Meinung erweist. Mill hält dagegen, dass auch spinnerte und moralisch suspekte Meinungen ein Körnchen Wahrheit enthalten. Wir verstehen die Welt erst, wenn wir dieses Körnchen Wahrheit in den Meinungen der politischen Gegner ausfindig zu machen versuchen. Daher haben wir auch kein Recht, andere Personen daran zu hindern, sich selbst ein Urteil zu bilden. Das gilt besonders im Politischen, wo wir, wenn wir eine grundsätzliche Haltung propagieren – ob nun für offene Grenzen oder die Aussetzung von Einwanderung und Asylrecht –, in der Regel nicht die Neben- und Folgewirkungen der Politik überblicken, mit der wir uns identifizieren. Übrigens ist die Konfrontation mit anderen Meinungen nach Mill sogar dann wertvoll, wenn sie rundum falsch sind. Denn man entwickelt eine eigene Meinung erst dann, wenn man seine vagen Ideen verteidigen muss und dabei auf die eigenen Schwächen stößt.
Wo nicht mehr debattiert wird, geht die eigene Urteilskraft verloren. Wie es Hannah Arendt bei Adolf Eichmann diagnostiziert hat, bewegen sich Menschen dann manchmal nur noch in Klischees und Sprachhülsen. Davor schützt nicht der gute Wille, sondern nur eine lebendige Debatte.
Unsere Autorin ist Philosophie-Professorin an der Ruhr-Universität Bochum. Sie wechselt sich hier mit der Infektionsbiologin Gabriele Pradel ab.