Wie Corona-Stress unser Handeln verändert
Die anhaltenden Beschränkungen in der Pandemie setzen den Menschen zu. Die Hirnstruktur verändert sich. Erst recht in Isolation.
Vor dem Unterstellplatz für Einkaufswagen streiten sich zwei Pärchen um einen Wagen, als hinge ihr Leben davon ab. Am Fischstand keifen sich zwei Menschen lautstark an, weil einer von beiden es mit Abstand und Maske nicht so genau nimmt. Vor einem Familienparkplatz greift ein erzürnter Autofahrer einen anderen an, weil dieser seiner Meinung nach seinen Wagen unrechtmäßig dort abgestellt hat. Nur zehn Minuten auf dem Parkplatz eines großen Supermarktes geben einen Eindruck von der derzeitigen Gemütslage der Menschen. Viele sind dünnhäutig, andere aggressiv. Der Corona-Stress könnte ein Auslöser dafür sein, sagen Experten: Stress durch Quarantäne, Isolation und Dauerlockdown.
Stress kennt jeder: Überlastung im Job kann dazu führen, Ärger in der Familie, finanzielle oder auch gesundheitliche Sorgen. Wenn Stresshormone den Körper in Alarmbereitschaft versetzen, wird die Atmung schneller und flacher, das Herz schlägt heftiger und Muskeln werden besser durchblutet. Dabei folgt der Körper einem Mechanismus, der es dem Menschen schon vor Millionen Jahren ermöglichte, in bedrohlichen Lagen schnell fliehen zu können und so zu überleben. Grundsätzlich ist Stress also nichts Schlimmes. Er hilft dabei, in schwierigen Situationen wachsamer und fokussierter handeln zu können und so den Alltag besser zu bewältigen. Anders ist das bei Dauerstress.
„Unter chronischem Stress kommt der Körper in einen Zustand der dauerhaften Aktivierung und Erregung, und wir können uns nicht mehr erholen“, sagt Jana Strahler. Seit mehreren Jahren beschäftigt sie sich an der Justus-Liebig-Universität in Gießen unter anderem mit dem Einfluss von Stress auf neuronale Prozesse – also Auswirkungen auf das Hirn. Was sie und ihre Kollegen wissen: Vor allem Situationen, die als bedrohlich und unkontrollierbar empfunden werden, führen zu Stress – und solche, in denen Menschen sich unsicher sind, ob sie die Lage bewältigen können. Hält Stress an, werden Menschen körperlich und psychisch anfälliger für Krankheiten.
„Es gibt jedoch auch Veränderungen im Hirn“, sagt Strahler. Das Nervenwachstum sei gehemmt, ebenso die Neurogenese, also die Neubildung von Nervenzellen. In der Bildgebung kann man außerdem beobachten, dass bestimmte Hirnareale unter Stress schrumpfen oder wachsen. Besonders empfindsam spricht im Hirn die sogenannte Amygdala auf Stress an. Dieser Hirnbereich trägt entscheidend dazu bei, wie wir
Situationen emotional einschätzen. Dauerstress führt zur Überstimmulierung und Vergrößerung der Amygdala. In Folge dessen werden laut Strahler deutlich mehr Situationen mit Angst und Schrecken verbunden und als gefährlich betrachtet – auch, wenn es gar nicht nötig wäre.
Warum Menschen derzeit bei kleinen Anlässen völlig überreagieren, lässt sich durch die Verbindung der Amygdala mit dem präfrontalen Cortex (Stirnlappen) erklären. Diese Hirnregion ist für die Gefühlskontrolle verantwortlich und spielt beim logischen Denken eine Rolle. In Stresssituationen hilft der präfrontale Cortex dabei, zu bewerten, ob die Situation zu bewältigen ist oder nicht. Er beeinflusst, wie wir uns in der stressigen Situation verhalten.
Unter Dauerstress wird der Stirnlappen kleiner. Das führt dazu, dass man weniger Kontrolle über seine Emotionen hat, die Stresssituation nicht mehr gut bewerten kann, weniger gut überlegt und zielgerichtet denkt. „Menschen zeigen dann häufig kein der Situation angemessenes
Verhalten mehr“, sagt die Gießener Forscherin. Aus diesem biologischen Mechanismus lässt sich erklären, warum Menschen vor Supermärkten und andernorts zu emotionalen Überreaktionen neigen.
Eine weitere Folge der Veränderungen im präfrontalen Cortex: Wir können weniger flexibel reagieren. „Unter chronischem Stress nimmt darum unser Gewohnheitsverhalten zu. Man bleibt stärker in alten Gewohnheiten verhaftet“, sagt Strahler. Konkret kann das dazu führen, dass Raucher mehr rauchen, mehr Alkohol getrunken wird oder man schwerer von ungesundem Essverhalten wegkommt.
Neben den beiden genannten Hirnregionen beeinflusst Dauerstress auch den Hippocampus in seiner Größe und Funktion. Dieser ist für die Einspeicherung neuer Gedächtnisinhalte, aber auch für die Verarbeitung von Emotionen zuständig. In dieser Hirnregion werden ebenfalls weniger Hirnzellen produziert – der Hippocampus schrumpft also. Das wiederum wirkt sich nachteilig auf das Lernen und Erinnern aus. Dauergestresste lernen deutlich mühsamer und sind im Alltag vergesslicher.
Veränderungen im Hippocampus hatte auch der Neurowissenschaftler
Alexander Stahn von der Berliner Charité im Blick, als zwischen 2016 und 2018 ein Team von Forschern für 14 Monate in die Antarktis aufbrach und dort in vollkommener Isolation zwischen Schneestürmen und Pinguinen seinen Studien nachging. Aus vielen Tierstudien ist zwar bekannt, dass Isolation und räumliche Enge sich negativ
Hanns-Christian Gunga Zentrum für Weltraummedizin und Extreme Umwelten
auf das zentrale Nervensystem und ebenso auf das Verhalten auswirken können: Tiere in Isolation zeigen aggressives Verhalten. Doch lassen sich Tiermodelle nur schwierig auf Menschen übertragen. Stahn machte darum die Polarforscher selbst zum Forschungsobjekt, weil er wissen wollte, ob sich die extreme Umgebung ähnlich auf deren Hirn auswirken würde, wie man es aus den Tierversuchen kannte. Das Ergebnis: Nach 14 Monaten Aufenthalt
auf der Antarktis-Station hatte sich bei den meisten der neun Teilnehmer der Expedition das Hirn verändert – und auch das Verhalten. Im MRT konnte Stahn sichtbar machen, dass sich der Hippocampus verkleinert hatte. Dieses Phänomen ist auch von Gefangenen in Einzelhaft bekannt. „Schon nach wenigen Tagen wirkt sich fehlender sozialer Kontakt – sei es akustisch, visuell oder durch Berührung – aus“, sagt Hanns-Christian Gunga vom Zentrum für Weltraummedizin und Extreme Umwelten in Berlin. Solche neurologischen Veränderungen können das Verhalten stark beeinflussen. „Nach der Polarexpedition kam es dazu, dass einer der Expeditionsteilnehmer auf einen Freund einstach, weil dieser ihm im Gespräch über verschiedene Bücher immer das Ende verriet“, sagt Gunga. Eine vollkommene Überreaktion, bei der die Neurowissenschaftler einen Zusammenhang zur vorangegangenen Isolation sehen.
Einige Wissenschaftler vermuten sogar, dass es eine Verbindung zwischen Isolation und der Zunahme von Gewalt in unserer Gesellschaft gibt. Britische Wissenschaftler werteten in einer Übersichtsarbeit Daten aus 24 Studien aus früheren Epidemien wie Sars, der H1N1-Grippe-Epidemie 2009 und 2010 und Mers aus. Dabei fanden sie unter anderem heraus, dass längere Quarantäne zu einer schlechteren psychischen Gesundheit führt und posttraumatische Stresssymptome verstärkt, was sich unter anderem Monate nach der Isolation noch in Wut- und Ärgerausbrüchen zeigte.
Aus Tierexperimenten weiß man wiederum, dass Mäuse auch nach einer zweiwöchigen Isolation Veränderungen in ihrem Verhalten und ihren Gehirnfunktionen zeigten. In der Studie machten die Forscher ein Molekül namens Tac 2 dafür verantwortlich. Dieses löst Stressreaktionen aus und führte bei den Mäusen zu unruhigem und aggressivem Verhalten. Daneben stellten die Wissenschaftler auch Veränderungen in der Amygdala fest, die für die Angstverarbeitung zuständig ist. Die Forscher glauben, dass diese Effekte im Hirn auch lange Zeit über die Isolation hinaus andauern könnten.
Die gute Nachricht: „Wir gehen davon aus, dass aber beispielsweise Sport diesen Veränderungen im Hirn entgegenwirken kann“, sagt Stahn. Auch Strahler verweist auf Bewegung als ausgleichenden Faktor, der den stressbedingten Veränderungen im Hirn entgegenwirken könne. Wichtig seien zudem regelmäßiger Schlaf, eine möglichst gesunde Ernährung und Entspannungsmomente. Diese könne man sich beispielsweise durch Achtsamkeitsübungen oder Yoga schaffen.
„Schon nach wenigen Tagen wirkt sich fehlender sozialer Kontakt – sei es akustisch, visuell oder durch Berührung – aus“