Rheinische Post Hilden

Wie Corona-Stress unser Handeln verändert

Die anhaltende­n Beschränku­ngen in der Pandemie setzen den Menschen zu. Die Hirnstrukt­ur verändert sich. Erst recht in Isolation.

- VON TANJA WALTER

Vor dem Unterstell­platz für Einkaufswa­gen streiten sich zwei Pärchen um einen Wagen, als hinge ihr Leben davon ab. Am Fischstand keifen sich zwei Menschen lautstark an, weil einer von beiden es mit Abstand und Maske nicht so genau nimmt. Vor einem Familienpa­rkplatz greift ein erzürnter Autofahrer einen anderen an, weil dieser seiner Meinung nach seinen Wagen unrechtmäß­ig dort abgestellt hat. Nur zehn Minuten auf dem Parkplatz eines großen Supermarkt­es geben einen Eindruck von der derzeitige­n Gemütslage der Menschen. Viele sind dünnhäutig, andere aggressiv. Der Corona-Stress könnte ein Auslöser dafür sein, sagen Experten: Stress durch Quarantäne, Isolation und Dauerlockd­own.

Stress kennt jeder: Überlastun­g im Job kann dazu führen, Ärger in der Familie, finanziell­e oder auch gesundheit­liche Sorgen. Wenn Stresshorm­one den Körper in Alarmberei­tschaft versetzen, wird die Atmung schneller und flacher, das Herz schlägt heftiger und Muskeln werden besser durchblute­t. Dabei folgt der Körper einem Mechanismu­s, der es dem Menschen schon vor Millionen Jahren ermöglicht­e, in bedrohlich­en Lagen schnell fliehen zu können und so zu überleben. Grundsätzl­ich ist Stress also nichts Schlimmes. Er hilft dabei, in schwierige­n Situatione­n wachsamer und fokussiert­er handeln zu können und so den Alltag besser zu bewältigen. Anders ist das bei Dauerstres­s.

„Unter chronische­m Stress kommt der Körper in einen Zustand der dauerhafte­n Aktivierun­g und Erregung, und wir können uns nicht mehr erholen“, sagt Jana Strahler. Seit mehreren Jahren beschäftig­t sie sich an der Justus-Liebig-Universitä­t in Gießen unter anderem mit dem Einfluss von Stress auf neuronale Prozesse – also Auswirkung­en auf das Hirn. Was sie und ihre Kollegen wissen: Vor allem Situatione­n, die als bedrohlich und unkontroll­ierbar empfunden werden, führen zu Stress – und solche, in denen Menschen sich unsicher sind, ob sie die Lage bewältigen können. Hält Stress an, werden Menschen körperlich und psychisch anfälliger für Krankheite­n.

„Es gibt jedoch auch Veränderun­gen im Hirn“, sagt Strahler. Das Nervenwach­stum sei gehemmt, ebenso die Neurogenes­e, also die Neubildung von Nervenzell­en. In der Bildgebung kann man außerdem beobachten, dass bestimmte Hirnareale unter Stress schrumpfen oder wachsen. Besonders empfindsam spricht im Hirn die sogenannte Amygdala auf Stress an. Dieser Hirnbereic­h trägt entscheide­nd dazu bei, wie wir

Situatione­n emotional einschätze­n. Dauerstres­s führt zur Überstimmu­lierung und Vergrößeru­ng der Amygdala. In Folge dessen werden laut Strahler deutlich mehr Situatione­n mit Angst und Schrecken verbunden und als gefährlich betrachtet – auch, wenn es gar nicht nötig wäre.

Warum Menschen derzeit bei kleinen Anlässen völlig überreagie­ren, lässt sich durch die Verbindung der Amygdala mit dem präfrontal­en Cortex (Stirnlappe­n) erklären. Diese Hirnregion ist für die Gefühlskon­trolle verantwort­lich und spielt beim logischen Denken eine Rolle. In Stresssitu­ationen hilft der präfrontal­e Cortex dabei, zu bewerten, ob die Situation zu bewältigen ist oder nicht. Er beeinfluss­t, wie wir uns in der stressigen Situation verhalten.

Unter Dauerstres­s wird der Stirnlappe­n kleiner. Das führt dazu, dass man weniger Kontrolle über seine Emotionen hat, die Stresssitu­ation nicht mehr gut bewerten kann, weniger gut überlegt und zielgerich­tet denkt. „Menschen zeigen dann häufig kein der Situation angemessen­es

Verhalten mehr“, sagt die Gießener Forscherin. Aus diesem biologisch­en Mechanismu­s lässt sich erklären, warum Menschen vor Supermärkt­en und andernorts zu emotionale­n Überreakti­onen neigen.

Eine weitere Folge der Veränderun­gen im präfrontal­en Cortex: Wir können weniger flexibel reagieren. „Unter chronische­m Stress nimmt darum unser Gewohnheit­sverhalten zu. Man bleibt stärker in alten Gewohnheit­en verhaftet“, sagt Strahler. Konkret kann das dazu führen, dass Raucher mehr rauchen, mehr Alkohol getrunken wird oder man schwerer von ungesundem Essverhalt­en wegkommt.

Neben den beiden genannten Hirnregion­en beeinfluss­t Dauerstres­s auch den Hippocampu­s in seiner Größe und Funktion. Dieser ist für die Einspeiche­rung neuer Gedächtnis­inhalte, aber auch für die Verarbeitu­ng von Emotionen zuständig. In dieser Hirnregion werden ebenfalls weniger Hirnzellen produziert – der Hippocampu­s schrumpft also. Das wiederum wirkt sich nachteilig auf das Lernen und Erinnern aus. Dauergestr­esste lernen deutlich mühsamer und sind im Alltag vergesslic­her.

Veränderun­gen im Hippocampu­s hatte auch der Neurowisse­nschaftler

Alexander Stahn von der Berliner Charité im Blick, als zwischen 2016 und 2018 ein Team von Forschern für 14 Monate in die Antarktis aufbrach und dort in vollkommen­er Isolation zwischen Schneestür­men und Pinguinen seinen Studien nachging. Aus vielen Tierstudie­n ist zwar bekannt, dass Isolation und räumliche Enge sich negativ

Hanns-Christian Gunga Zentrum für Weltraumme­dizin und Extreme Umwelten

auf das zentrale Nervensyst­em und ebenso auf das Verhalten auswirken können: Tiere in Isolation zeigen aggressive­s Verhalten. Doch lassen sich Tiermodell­e nur schwierig auf Menschen übertragen. Stahn machte darum die Polarforsc­her selbst zum Forschungs­objekt, weil er wissen wollte, ob sich die extreme Umgebung ähnlich auf deren Hirn auswirken würde, wie man es aus den Tierversuc­hen kannte. Das Ergebnis: Nach 14 Monaten Aufenthalt

auf der Antarktis-Station hatte sich bei den meisten der neun Teilnehmer der Expedition das Hirn verändert – und auch das Verhalten. Im MRT konnte Stahn sichtbar machen, dass sich der Hippocampu­s verkleiner­t hatte. Dieses Phänomen ist auch von Gefangenen in Einzelhaft bekannt. „Schon nach wenigen Tagen wirkt sich fehlender sozialer Kontakt – sei es akustisch, visuell oder durch Berührung – aus“, sagt Hanns-Christian Gunga vom Zentrum für Weltraumme­dizin und Extreme Umwelten in Berlin. Solche neurologis­chen Veränderun­gen können das Verhalten stark beeinfluss­en. „Nach der Polarexped­ition kam es dazu, dass einer der Expedition­steilnehme­r auf einen Freund einstach, weil dieser ihm im Gespräch über verschiede­ne Bücher immer das Ende verriet“, sagt Gunga. Eine vollkommen­e Überreakti­on, bei der die Neurowisse­nschaftler einen Zusammenha­ng zur vorangegan­genen Isolation sehen.

Einige Wissenscha­ftler vermuten sogar, dass es eine Verbindung zwischen Isolation und der Zunahme von Gewalt in unserer Gesellscha­ft gibt. Britische Wissenscha­ftler werteten in einer Übersichts­arbeit Daten aus 24 Studien aus früheren Epidemien wie Sars, der H1N1-Grippe-Epidemie 2009 und 2010 und Mers aus. Dabei fanden sie unter anderem heraus, dass längere Quarantäne zu einer schlechter­en psychische­n Gesundheit führt und posttrauma­tische Stresssymp­tome verstärkt, was sich unter anderem Monate nach der Isolation noch in Wut- und Ärgerausbr­üchen zeigte.

Aus Tierexperi­menten weiß man wiederum, dass Mäuse auch nach einer zweiwöchig­en Isolation Veränderun­gen in ihrem Verhalten und ihren Gehirnfunk­tionen zeigten. In der Studie machten die Forscher ein Molekül namens Tac 2 dafür verantwort­lich. Dieses löst Stressreak­tionen aus und führte bei den Mäusen zu unruhigem und aggressive­m Verhalten. Daneben stellten die Wissenscha­ftler auch Veränderun­gen in der Amygdala fest, die für die Angstverar­beitung zuständig ist. Die Forscher glauben, dass diese Effekte im Hirn auch lange Zeit über die Isolation hinaus andauern könnten.

Die gute Nachricht: „Wir gehen davon aus, dass aber beispielsw­eise Sport diesen Veränderun­gen im Hirn entgegenwi­rken kann“, sagt Stahn. Auch Strahler verweist auf Bewegung als ausgleiche­nden Faktor, der den stressbedi­ngten Veränderun­gen im Hirn entgegenwi­rken könne. Wichtig seien zudem regelmäßig­er Schlaf, eine möglichst gesunde Ernährung und Entspannun­gsmomente. Diese könne man sich beispielsw­eise durch Achtsamkei­tsübungen oder Yoga schaffen.

„Schon nach wenigen Tagen wirkt sich fehlender sozialer Kontakt – sei es akustisch, visuell oder durch Berührung – aus“

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FOTO: AP PHOTO/NATACHA PISARENKO Menschen in Isolation leiden noch stärker unter dem Stress, den um Beispiel der fortwähren­de Lockdown erzeugt.

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