Wem gehört Jerusalem?
Der Nahostkonflikt ist zurück auf der Weltbühne, aber die strategische Lage hat sich verändert. Für die aktuelle Eskalation gibt es mehrere Gründe.
Raketen von Gaza auf Israel, Luftangriffe der israelischen Armee auf Gaza. Tote und Verletzte auf beiden Seiten. Israel beansprucht ganz Jerusalem als seine ungeteilte Hauptstadt, die Palästinenser wollen Ostjerusalem als ihre Hauptstadt. Ägypten und Jordanien versuchen zu vermitteln, der Papst ist aufgeschreckt und mahnt zur Mäßigung, die Amerikaner und die EU ebenfalls. Ob und wann wieder Ruhe einkehren wird, ist noch ungewiss.
Es gibt mehrere Gründe, warum es gerade jetzt, nach einigen Jahren der Ruhe, zu den heftigsten Auseinandersetzungen seit sieben Jahren kommt. Der letzte Freitag des Fastenmonats Ramadan gilt als heilig und ließ viele Muslime zur Al-Aksa-Moschee auf den Tempelberg in Ostjerusalem pilgern. Dort verwehrten ihnen israelische Sicherheitskräfte den Zugang – angeblich wegen Corona. Es kam zunächst zu Handgemengen. Als die Palästinenser Steine warfen, antworteten die Sicherheitskräfte mit Tränengas und machten auch vor dem Inneren der Moschee nicht Halt.
Tags darauf gedachten Israelis der Eroberung Ostjerusalems 1967 im Sechstagekrieg, was von der internationalen Gemeinschaft jedoch nicht anerkannt wird. Mit dem Demonstrationszug sollte dem Anspruch Israels auf ganz Jerusalem Ausdruck verliehen werden. Und ausgerechnet an diesem Jerusalemtag sollte auch noch das Oberste
Gericht Israels entscheiden, ob im Viertel Scheich Dscharrah, im östlichen Teil Jerusalems, vier der hier ansässigen palästinensischen Familien ihre Häuser räumen müssen – zugunsten israelischer Siedler. Im letzten Moment wurde die Gerichtsentscheidung verschoben. Die Situation war zu heikel.
Doch die Wucht war plötzlich wieder da. Der Nahostkonflikt, wie die Probleme zwischen Palästinensern und Israelis seit Jahrzehnten genannt werden, ist zurück auf der
Akiva Eldar Israelischer Politikwissenschaftler
Weltbühne. „Es gibt kein Licht am Ende des Tunnels“, sagt der israelische Politikwissenschaftler und Analyst Akiva Eldar im arabischen Nachrichtensender Al Dschasira, „weil es keinen Tunnel gibt.“Seit Jahren ist der Friedensprozess ins Stocken geraden, finden keine Gespräche über die Zukunft der beiden Kontrahenten mehr statt. Um die von vielen unterstützte Zweistaatenlösung ist es still geworden. Einzig die Europäische Union hält noch daran fest.
Die Palästinenser waren mehr und mehr aus dem Blickfeld der arabischen Länder geraten. Der Hauptfeind heute ist Iran. Deshalb halten sich Länder wie Saudi-Arabien, die Emirate am Golf und auch die Maghrebstaaten auffallend zurück, denn einige von ihnen haben mittlerweile diplomatische Beziehungen zu Israel aufgenommen. Die palästinensische Frage hat für sie nicht mehr höchste Priorität. Einzig Jordanien und Ägypten verurteilen das Vorgehen Israels. Jordanien hatte bis zum Ende des Sechstagekriegs 1967 das Mandat über Jerusalem und das Westjordanland und ist bis heute für den Tempelberg mit den muslimischen Heiligtümern zuständig. Ägypten hatte bis zu jenem Zeitpunkt die Oberaufsicht über den Gazastreifen. Beide Länder haben zwar Friedensverträge mit Israel, stehen der Regierung von Benjamin Netanjahu aber äußerst kritisch gegenüber. Der jordanische König Abdullah drohte sogar letztes Jahr mit der Aufkündigung des Vertrages, sollte Israel ganz Jerusalem und die palästinensischen Siedlungsgebiete für sich beanspruchen.
Doch dies kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass im Nahen Osten eine neue Balance entstanden ist, die Allianzen hervorgebracht hat, die über Jahrzehnte undenkbar waren. Die Palästinenser bezeichnen deshalb ihre abtrünnigen „arabischen Brüder“als Verräter, weil sie jetzt mehr auf der Seite Israels stünden. Sie fühlen sich im Stich gelassen. Und es würde nicht verwundern, wenn Iran ihnen im Kampf um Jerusalem jetzt beispringt. Eines ist aber schon glasklar: Der vom ehemaligen US-Präsidenten so heiß gepriesene Jahrhundert-Friedensplan für Palästina ist angesichts der jüngsten Ereignisse nicht einmal eine Fußnote der Geschichte.
„Es gibt kein Licht am Ende des Tunnels, weil es keinen Tunnel gibt“